Gedanken-Experiment: Sinn
In manchen Situationen erlebe ich, dass Menschen die Frage stellen: “Warum?”
Das ist oft der Fall, wenn eine schwere Krankheit diagnostiziert wird oder wenn ein Mensch plötzlich oder sehr früh stirbt.
Hinter dieser Frage nach dem “Warum?” steht die Frage nach dem Sinn.
Wir haben uns daran gewöhnt, die Frage nach dem Sinn, zum Beispiel nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn meines Lebens wie selbstverständlich zu stellen. Und wie selbstverständlich suchen wir darauf eine Antwort.
Ich habe auch immer noch die Hoffnung, dass mein Leben einen tieferen Sinn hat.
Aber angesichts so mancher vermeintlicher ‘sinnlosen’ Erfahrungen, wage ich mich immer mehr zu fragen, ob die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt sinn-voll ist?
Da sehe ich Menschen in anderen Ländern, die nur dahin vegetieren, die nicht leben und auch nicht sterben können, die unterdrückt werden oder Opfer von Gewalt werden. Ihr Leben erscheint mehr wie ein biologisches Dahinvegetieren. Ob diese Menschen überhaupt die Zeit haben, sich die Frage nach ihrem Lebenssinn zu stellen?
Oder können sich diese Frage erst Menschen stellen, die dafür den Kopf frei haben, die nicht um das nackte Überleben kämpfen müssen, die nicht gerade vom Leid zerfressen werden?
Daher wage ich es einfach mal, ein Gedanken-Experiment zu wagen:
Was würde mit mir passieren, wenn ich von der Prämisse ausginge, dass es überhaupt keinen – transzendenten – Sinn in meinem Leben gibt?
Natürlich kann ich einen Sinn im rein Funktionellen suchen und finden.
Dann wäre unser Leben aber kaum unterschieden von dem Leben anderer Kreaturen, die gleichsam lediglich eine biologische Nische ausfüllen, wo es um das Leben und Überleben und um die Erhaltung der Art geht. Zugleich wäre dieses Leben von “Fressen und Gefressenwerden” bestimmt.
Was würde sich also in meinem Leben verändern, wenn ich davon ausgehe, dass mein Leben in diesem Sinne “keinen Sinn hat”; wenn es zum Beispiel bei religiösen Menschen nicht auch um die Frage nach dem Leben danach ginge?
Was wäre, wenn es überhaupt kein “danach” gäbe? – Wofür würde ich dann noch leben wollen?
Woher würden wir Visionen entwickeln für eine bessere Zukunft, wenn nicht nur die reiner Erhaltung der Art dahinter stünde (BTW: Bei dem derzeitigen Umgang mit der Klimakrise bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass selbst diese primitive Form der Existenz einer Art, sich um die eigene Erhaltung der Art zu kümmern, bei uns noch nicht einmal – mehr – vorhanden ist; sonst würden wir mit viel mehr Entscheidenheit diese Herausforderung angehen!)?
Stellte ich also die Frage nach dem Sinn mit der Frage nach dem “danach” in Frage, müsste ich weiter suchen.
Dann würde ich irgendwann zu der Frage kommen, warum ich JETZT noch leben möchte?
Die Sinnfrage würde also dann mehr und mehr auf die Gegenwart, auf den Augenblick, auf das Jetzt gerichtet werden müssen.
Und an diesem Punkt entdecke ich auch als religiöser Mensch das Potential für eine Antwort. Dann werde ich nämlich irgendwann auch an den Punkt gelangen, wo ich lernen muss, das Leben so zu leben und anzunehmen, wie es ist.
Dann wird die Sinnfrage sich allein in diesem Augenblick entscheiden müssen.
“Es ist, was es ist…” – so Worte von Erich Fried.
Wer sich frei macht von der Frage, was ‘einmal mein Leben Sinn geben soll’, der wird mehr und mehr auf die Gegenwart geworfen sein.
Was ist jetzt? – “Es ist, was es ist…” – Das verweist uns auf den Augenblick.
Auf den Augenblick verwiesen zu sein, wenn es mir ‘gut’ geht, wenn ich mein Leben gut meistern kann, wenn ich frei bin von Not, Leid oder Krankheit – das ist keine Kunst.
Dann kann ich sogar eine tiefere Zufriedenheit entwickeln, die aus der reinen Freude am Leben erwächst.
Deutlich problematischer wird es aber, wenn mein Leben in diesem Augenblick überhaupt nicht schön ist, sondern von Krankheit, Gewalt, Leid oder Not gekennzeichnet ist.
Da wird es sehr schwierig, aus dem Augenblick heraus zu leben und neue Kräfte zu entwickeln, um durch diese schwere Zeit zu kommen.
Da wird es wohl nötig sein, Visionen zu entwickeln, wofür ich (noch) leben möchte?
Jetzt wird es schwierig für mich, weiter zu denken: entweder ich nehme das Leben so an, wie es ist, oder aber – ohne eine Antwort nach einem Sinn – mein Leben wird sinn-los und es steigt die Möglichkeit, mein Leben vor der Zeit zu beenden.
Es geht auch noch anders: ich verknüpfe die Frage nach dem Sinn des Lebens doch mit einer ‘transzendenten’ Anwort nach dem Sinn des Lebens.
Was aber, wenn das nur ein raffinierter Kniff der eigenen menschlichen Psyche ist, um nicht vorzeitig aus dem Leben treten zu wollen.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens für ein ‘Leben danach’ kann nur eine Antwort aus einer Hoffnung heraus sein; eine Hoffnung, die wir zu den irdischen Lebzeiten niemals erfüllt sehen werden.
Eine liebe Freundin von mir (und Ordensfrau und Kollegin) sagte immer wieder vor ihrem Sterben: “Ich habe noch viele offene Fragen, die ER mir wird beantworten müssen.”
Diese Freudin war durchdrungen vom Glauben an das zukünftige Leben, aber ihr war auch klar, dass manche Antworten auf den Sinn werden warten müssen, jenseits der Zeit.
Können wir uns aber damit zufrieden geben, wenn wir die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen?
Ich fürchte: wir müssen es!
Es sei denn, wir lernen das Leben so zu leben, wie es ist, ohne nach dem Sinn zu fragen, ohne die Frage nach dem “Warum?” beantwortet haben zu müssen.
“Es ist, was es ist….!