Es gibt sie, diese Tage, wo man das Gefühl hat ‚mit dem linken Bein zuerst aufgestanden zu sein‘;
es gibt Tage, da scheint es einfach keinen Grund zu geben, warum man nicht bester Laune ist und Vieles nicht leicht von der Hand geht; es gibt Tage, an denen wünschte man sich, dass er (noch) gar nicht begonnen hätte, mit der Chance, anders zu beginnen; es gibt Tage, da fühlt man sich einfach ‚fehl am Platze‘ …
Heute ist ein solcher Tag für mich.
Menschen nehmen solche Tage unterschiedlich wahr. Manche schieben das negative Karma einfach zur Seite; andere hingegen können es nicht so einfach. Nicht, dass sie nicht wollten; sie können es einfach nicht.
Ich tue mich an solchen Tagen eher schwer damit, komme ins Grübeln, warum es so sei und überlege angestrengt, wie ich wieder in eine gelassenere Haltung kommen kann.
Dabei weiß ich zugleich, dass es wieder andere Tage geben wird. Also versuche ich, mit diesem ‚miesen Gefühl‘ durch den Tag zu gehen und zu sagen: „C’est la vie!“ – So ist das Leben!
Also, versuche ich nach vorne zu schauen und erinnere mich daran, dass ich Erfahrungen mit solchen Tagen habe. Daraus kann eine Resilienz entstehen, die mir hilft, solche Tage zu überstehen, weil ich weiß:
Solche Tage hat es in der Vergangenheit gegeben und solche Tage wird es auch wieder in der Zukunft geben. Doch dazwischen gab es auch viele schöne und gute Tage. An Tagen wie diesen geht es darum, dass man in sich hineinhorcht und sich daran erinnert, dass solche Tage auch wieder gehen – oft so plötzlich, wie sie gekommen sind. Dieses Sich-Zurück-Erinnern an ähnliche Erfahrungen aus der Vergangenheit und wenn ich mir gewahr werde, dass ich solche Situationen in der Vergangenheit gut überstanden habe und auch jetzt die berechtigte Hoffnung haben werde, dass ich diese Situation wieder gut überstehe, ist eine Rückgriff auf meine Ressourcen. Sie werden gebildet auch durch meine Erfahrungen in der Vergangenheit. Meine Ressourcen sind auch, sich dann zu erinnern, wie man in der Vergangenheit solche Situationen gemeistert hat. Welche Strategien und Verhaltensweisen waren hilfreich und welche haben mir nicht geholfen, mich vielleicht sogar noch mehr belastet?
Solche Tage fordern mich, fordern uns heraus. Gut ist es, wenn man dann nicht untätig bleibt, sondern sich aktiv dieser Situation stellt und damit umgeht. Dann kann die Stimmung sich ändern, sie ist vielleicht nicht mehr ganz so bleiern schwer wie am Anfang. Und ich spüre – hoffentlich – dann auch so einen inneren Impuls, der mich handeln lässt.
Und dann sieht die dunkle Welt um mich schon wieder ganz anders aus.
Übrigens: allein jetzt darüber geschrieben zu haben, hilft mir schon. Ebenso kann es helfen, mit jemandem darüber zu reden, oder diese Gedanken in sein Tagebuch einzutragen.
Denn ich habe die Erfahrungen gemacht: Alles, was an Belastendes unser Kopf durch Worte oder Bilder (gesprochen, geschrieben oder gemalt) verlassen hat, kann man distanzierter betrachten.
Versuche es einfach mal selber aus!
Von ‚unsichtbaren‘ Krankheiten (1)
Seit über 25 Jahren leide ich am Reizdarm-Syndrom und seit über sieben Monaten am Post-Covid-Syndrom: zwei unsichtbare Krankheiten …
… die für viele unsichtbar sind, aber mein Leben dominieren können.
„Nur, wem man die Krankheit ansieht, ist auch krank!“
Dieser provokante Satz ist nicht meine Überzeugung, sondern – leider – eher meine Einsicht, zu der ich in den letzten Jahren gelangt bin und die sich durch mein momentanes Post-Covid noch verstärkt hat. Deshalb will ich darüber schreiben.
Hier konkrete Beispiele:
Foto: Gerd Wittka, September 2013
Als ich 2013 im September einen schweren Unfall hatte, mir einen Trümmerbruch im Wadenbein und einen Spiralbruch im Unterschenkel zuzog, ich daran operiert wurde, drei Wochen im Krankenhaus lag und noch einige Monate brauchte, um durch Physiotherapie buchstäblich wieder auf die Beine zu kommen, da wurde diese ‚Krankheit‘ in meinem Umfeld akzeptiert. Ich bekam viele Rückmeldungen und auch gute Genesungswünsche.
Als ich Ende 2019/Anfang 2020 an einer depressiven Episode erkrankte und fast sieben Monate arbeitsunfähig war, sah es ganz anders aus. Es gab nur wenige Menschen, die nach mir fragten, die mir gute Besserung gewünscht haben. Selbst aus dem beruflichem Umfeld gab es nur wenige Kolleg:innen, die sich nach mir erkundigten und mich ermutigten. Besonders enttäuschend war, dass sich mein damaliger ‚Dienstvorgesetzter‘ nie von sich selber aus nach mir erkundigt hatte. Und wenn ich ihm über meine Verlängerung der AU per Email informierte kam von ihm allenfalls eine knappe Email mit „Gute Besserung!“ oder ähnlichen Plattitüden zurück. Heute bin ich froh und dem Himmel dankbar, dass er seinen Platz als ‚Dienstvorgesetzter‘ geräumt hat; sonst hätte ich meinen Platz verlassen und unseren Bischof um Versetzung gebeten.
Dabei denke ich: wenn jemand so viele Monate ausfällt und nicht arbeitsfähig ist, ist dieser Menschen dann weniger schwer krank, als wenn er sich Gliedmaßen gebrochen hat?!
Aus diesem Grund habe ich den provokanten Satz am Anfang dieses Absatzes gewählt.
Und diese ‚Erkenntnis‘ deckt sich mit den Erfahrungen vieler Menschen, die ich in den letzten vierzehn Jahren in einer psychiatrischen Klinik seelsorglich begleiten durfte.
Psychisch krank zu sein, dass müsse irgendetwas mit einer schwachen Persönlichkeit zu tun haben. Oder sie wird als mangelnde ‚Belastbarkeit‘ verstanden, die als negative Persönlichkeitseigenschaft gewertet wird. Aber psychisch krank zu sein, sei doch keine ‚richtige‘ Krankheit, die ebenso viel Empathie, Fürsorge und menschlichen Beistand erfordert, wie wenn man körperlich krank ist.
„Da reißt man sich eben halt mehr zusammen!“, denn: „Es ist ja nicht nur alles schwarz-weiß, man muss nicht alles so negativ sehen!“ und „Man muss sich nur mal einen Ruck geben!“, weil „… andere es ja auch schwer haben ….!“ –
Von solchen oder ähnlichen – wenig hilfreichen – Sätzen wissen gerade psychisch erkrankte Menschen zuhauf zu berichten!
Für Manche sind psychische Erkrankungen halt eher eine Charakterschwäche als eine ‚echte Krankheit‘!
Das bringt psychisch erkrankten Menschen noch zusätzliche Belastungen und Leiden!
Phasenweise – sichtbar – krank
Zu diesen Krankheiten, die wenig sichtbar sind und deshalb auch weniger wahr- und ernstgenommen werden, sind Erkrankungen, wo die Krankheit nur phasenweise ’sichtbar‘ wird.
Mittlerweile darf ich mit zwei unterschiedlichen Erkrankungen diese Erfahrung machen.
Das eine ist meine Reizdarmerkrankung, die ich schon seit über 25 Jahren habe und die meinen Alltag massiv prägt. Ich weiß nie, ob und wann ich wieder diese fürchterlichen Darmkrämpfe bekomme, die mich noch vor einigen Jahren teilweise einen halben Tag ins Bett getrieben haben, verbunden mit unkontrollierbaren Stuhlgängen, die ich unter Schmerzen auf dem WC erleben musste. Und dann diese Angst, irgendwo unterwegs zu sein und dann dringend ‚Müssen‘ zu müssen, aber kein WC in der Nähe zu haben. Die Angst, sich buchstäblich ‚in die Hose zu machen‘ und der psychische Stress, der daraus entsteht. Damit verbunden, immer wieder Einladungen, Begegnungen oder Unternehmungen nicht wahrzunehmen, weil da immer diese Angst vor irgendwelchen ‚Zwischenfällen‘ mitschwingt.
Da nutzt es dann wenig, wenn ich zu denen gehöre, die immer sehr früh wissen, wo es ein ‚öffentliches WC‘ gibt oder der sogar schon Apps auf seinem Smartphone hat, die öffentliche WC’s anzeigen und der dann – selber bei solchen Toiletten angekommen und sie auch benutzt – ‚Erfahrungsberichte‘ in diesen Apps postet, damit andere Leidensgenoss:innen auch immer auf dem aktuellen Stand sind und ggfs. nicht vor verschlossenen Türen stehen.
Wenn andere von diesem Leiden etwas mitbekommen, dann belastet mich das maximal. Denn dann sehen sie es meinem Gesicht an, wie ich versuche, mit den Schmerzen zurecht zu kommen; oder wie ich durch die Krämpfe gekrümmt auf einem Stuhl oder im Sessel sitze; manchmal kann ich dann nur noch liegen, mit einer Bauchwickel gewappnet. Oder wenn ich wimmernd vor Schmerzen auf dem Klo sitze und fürchte, dass jemand mein Wimmern mitbekommt. Dann ist es für mich besonders schlimm. Mit meinen RDS leide ich lieber allein, ungesehen und unbemerkt!
Beschwerdefrei hingegen, sieht man es mir nicht an: Ich führe dann hochkonzentriert seelsorgliche Begleitungsgespräche, sitze in Sitzungen und protokolliere vielleicht sogar recht professionell die Sitzung oder stehe sehr souverän vor Menschen, wenn ich einen Gottesdienst leite. Dann ist da keine Spur von dem sichtbar, was ich im Verborgenen erleide.
‚Kann dieser Mensch, der da so souverän auftritt und so zuverlässig und empathisch seine Arbeit machen kann, gleichzeitig gesundheitlich so eingeschränkt sein?!‘, werden sich manche fragen.
Deshalb wundert es mich nicht, dass Außenstehende meine Belastungen nicht immer gut nachvollziehen können.
Neu im Portfolio: Post-Covid
‚Fatigue‘ – Symbolbild, www.pixabay.com
Und jetzt habe ich seit über sieben Monaten eine neue solche ‚unsichtbare‘ Krankheit in meinem persönlichen Portfolio: Post-Covid!
Bei der Post-Covid-Diagnose handelt es sich – genau so wie beim Reizdarmsyndrom – um eine sogenannte ‚Ausschlussdiagnose‚. Das bedeutet, dass die Symptome wie „Brainfog“,Konzentrations- und Sprechstörungen, Erschöpfung, Müdigkeit, Schwindel, Schlafstörungen oder -losigkeit, Fatigue, Atembeschwerden und viele andere Symptome, nicht von einer anderen Krankheit herrühren dürfen. Dementsprechend musste ich verschiedene Fachärzte aufsuchen, von Pneumologen über Kardiologen, etc.! Nun habe ich die Diagnose und bin damit aber nicht besser dran, weil es keine zuverlässigen Behandlungsmethoden und Therapien gibt, die empirisch eine signifikante Verbesserung oder gar Heilung in Aussicht stellen. Die Forschung von Post-Covid und der Behandlung steckt noch in den ‚Kinderschuhen‘.
Nachdem ich mich sieben Monate mit den Beschwerden durch meinen beruflichen und privaten Alltag laviert habe und oft nur drei Stunden aktiv sein konnte, weil ich dann unter totaler Erschöpfung litt, musste nun die ‚Reißleine gezogen werden‘ und mein Arzt hat mich aus dem Verkehr gezogen.
Und so erlebe ich weiter die Höhen und Tiefen von Post-Covid.
Für mich habe ich entschieden, erst einmal nur noch meinen Gottesdienst samstags im Krankenhaus zu feiern, denn auch während der AU würde ich ja an einem Gottesdienst teilnehmen wollen. Mit der Gottesdienstgemeinschaft habe ich den Deal gemacht, dass ich keinen großen Aufwand mit Predigtvorbereitungen etc. leisten könnte, ich aber den Gottesdienst anbieten würde, wenn sie damit einverstanden sind. Sie sind damit einverstanden und so gibt es dann schlichtere Gottesdienste, als man es von mir gewohnt ist. In dieser Zeit während des Gottesdienstes merkt man mir mein Post-Covid auch wohl kaum an; manchmal verspreche ich mich etwas, weil mir die Konzentration schwer fällt, aber sonst?
Damit das so läuft, habe ich ja auch was dafür getan: Vor dem Gottesdienst lege ich mich gut eine Stunde ins Bett, um für den Gottesdienst Kräfte zu sammeln. Und wenn ich dann nach gut zweieinhalb Stunden wieder zuhause bin (mit Vor- und Nachbereitungszeit vor Ort!), dann bin ich wieder reif fürs Bett. Also lege ich mich dann wieder hin, manchmal auch nur auf die Couch.
PPP
… nein, ich habe mich nicht vertippt! Die drei ‚P‘s, stehen für eine therapeutische Methode, mit der Menschen, die von Post-Covid betroffen sind, einen erträglichen Alltag ermöglichen könnte.
meint die sensible Wahrnehmung der eigenen Belastungsgrenzen. Wer seine Belastungsgrenzen kennt, kann mit dem ihn eigenem Tempo und Intensität an Aufgaben des Alltags herangehen. Dabei sind die Belastungsgrenzen nicht statisch und deren Entwicklung geht auch nicht immer nur in eine Richtung -> aufwärts. Belastungsgrenzen verändern sich in beide Richtungen, und was gestern noch meine Belastungsgrenze war, kann ich heute schon eine deutliche Überschreitung der gestrigen Grenze werden. Die Folge ist, dass ich jeden Tag neu sensibel auf meine Kräfte schauen muss und nur ausprobieren kann, was gehen könnte.
Ein Beispiel von gestern und heute (19./20. Juni 2024)
Aus meinem Gesundheitstagebuch vom 19. Juni:
Nachdem mein Tag heute gar nicht gut begonnen hatte und ich schon erschöpft in den Tag ging, hatte ich mich geärgert, weil ich das Wetter gerne zum Radfahren genutzt hätte. Doch dann habe ich mir gesagt, es ist wie es ist und habe mich um 12.30 Uhr wieder hingelegt und fast bis 14.30 Uhr geschlafen. Dann war ich so erholt, dass ich mich doch noch aufs Rad gesetzt habe und diese Strecke gefahren bin. Nun lege ich mich wieder hin, weil ich versuchen will, heute Abend noch zur Chorprobe zu fahren. Das Fußballspiel muss für mich leider ausfallen. Aber zum Umgang mit Post-Covid gehört es neben dem Einschätzen der Ressourcen, gut zu planen und Prioritäten zu setzen. Ich bin dankbar, dass ich das gemacht habe.
Von meinen Brüdern und anderen lieben Menschen, die mir nahestehen, bekam ich ermutigende Rückmeldung, die mich bestärkten. Doch heute, am 20.06.2024 sieht mein Tagebucheintrag um 13.30 Uhr schon anders aus:
Tja, leider war es gestern zuviel. Heute wieder crash. Ich komme noch nicht auf die Beine. Fühle mich benebelt, erschöpft und schwindelig, wie wenn ich die ganze Nacht Party gemacht hätte. (…) – Pah! Ich tu einfach so, als ob! Und bisschen ‚Party‘ war es ja gestern. Ich hatte riesige Freude, durch die Natur zu radeln und beim Chor hatte es ja auch Spaß gemacht… 😉 😂 🤣 Ohne Scheiß! Vielleicht ist das ein lohnender Umgang mit dieser Erfahrung. Denn der gestrige Tag war ja gut und schön für mich. Danke für die Idee!
Das ist eine Pacing-Erfahrung, die mich vorsichtig machen kann, aber die mich auch ermutigt, situativ angepasst mit meinem Alltag umzugehen.
Aus den Erfahrungen anderer Tage und dem sensiblen Hinschauen der momentanen Verfassung kann ich dann gezielt meinen Alltag planen. Ja, ich muss vorher mehr als sonst überlegen, was will ich an diesem Tag tun? Wofür werden mir die Kräfte reichen?
Und wenn ich dann einen Wust von Aufgaben sehe, die ich eigentlich noch zu erledigen haben, muss ich den dritten Aspekt der „3-P’s“ berücksichtigen.
Ich muss einfach Prioritäten setzen! Habe ich in den letzten sieben Monaten die Priorität gesetzt, fit für meine Arbeit sein zu wollen, um dann am Tag drei maximal vier Stunden arbeiten zu können, bin ich nach sieben Monaten nun zu einer anderen Priorisierung gekommen:
Mein Leben – mein Leben und mein persönlicher Alltag mit all den Aufgaben, die ich auch bei mir privat zuhause zu erledigen habe -, kann nicht allein zugunsten der Priorität „Dienst“ hinten anstehen! Mein Leben besteht nicht nur aus meinem Dienst, sondern auch aus anderen Erfordernissen und Aufgaben, die ich entweder erledigen muss (Haushaltsführung, wirtschaftliche Aktivitäten) oder dem dringenden Bedürfnis, zu einer ‚work-life-balance‘ zu kommen.
Das Wort: „Liebe deinen Nächsten, wie DICH selbst!“ ist gerade in solchen Situationen auch eine persönliche Herausforderung an mich als Seelsorger. Ich kann nicht immer nur versuchen, diese christliche Sichtweise anderen näher zu bringen. Dieses Gebot gilt auch für mich selber!
Wenn ich davon überzeugt bin, muss ich versuchen, es in meinem eigenen Leben zu beherzigen.
…
Für heute möchte ich mit diesen Zeilen erst einmal Schluss machen, weil ich spüre, dass ich wieder Grenzen erreiche.
Ich möchte mit diesen Zeilen auf das Thema: ‚unsichtbare Krankheiten‘ hinweisen, die zwar schon medizinisch erkannt und diagnostiziert, aber vom Umfeld der Erkrankten nicht oder nur kaum wahr- und ernst genommen werden.
In der Regel sorgen sich Frauen als werdende Mütter gut neun Monate sehr fürsorglich um das Kind, das in ihnen heran wächst. Sie haben bisweilen bange Ängste, ob das Kind wohlbehalten und gesund zu Welt kommt.
Dann – während der Geburt – bringen sie das Kind unter Schmerzen zu Welt; Schmerzen, die kein Mann der Erde nachvollziehen kann.
Wieviel Sorge und Entbehrungen wenden werdende Mütter auf, in der Sorge um ihr ungeborenes Kind?!
Und dann später, sollen diese Kinder – meist Söhne – als Kanonenfutter und für kriegstreiberische Potentaten ihr Leben geben?!
Wann endlich stehen die Mütter dieser Erde auf und lassen ihre Kinder nicht mehr in den Krieg ziehen?! Wann endlich sollen ihre Sorgen und ihre Schmerzen nicht vergeblich gewesen sein?!
Die Angehörigen Jesu meinen, er ist draußen, weil er sich nicht an das Wort hält: „Blut ist dicker als Wasser“.
Aber das Evangelium eröffnet uns eine andere Perspektive, wenn es gleich am Anfang die Worte findet: „In jener Zeit ging Jesus in ein Haus und wieder kamen (.) viele Menschen zusammen…!“
Bild: Gerd Wittka, 2024, erstellt mit KI
Jesus geht nach „drinnen“ und sammelt dort die Menschen. Es ist das ‚offene Haus‘, das den Menschen die Möglichkeit gibt, hineinzugehen und hineinzukommen, um im inneren Bereich der Verkündigung und der Botschaft Jesu anzukommen.
Wer hat nun „das Bessere gewählt“ in den Augen Jesu? Jene, die die geöffnete Tür nutzen, um zu Jesus zu kommen oder jene, die draußen stehen und auf die (Familien-)Tradition und Familienzugehörigkeit pochen und Jesus da ‚raus holen wollen‘?
Jesus lädt mit seiner provokanten Äußerung am Ende aber zugleich seine Verwandtschaft ein, in seinen Augen ‚in zu sein‘! – Ob sie der Einladung folgen werden?!
Und auch uns gilt die ‚Einladung an die Verwandten‘!
Bild: Gerd Wittka, 2024, erstellt mit KI
Das Evangelium stellt uns die provokante Frage:
Wer ist drinnen und wer ist draußen?
Wer ist ‚in‘ und wer ist ‚out‘, aus der Sicht Jesu?!
Und wie steht’s mit uns? Wo stehen wir?
Ertappt!
Glaube kann ganz einfach und direkt sein – eine Herzenssache!
Wenn man Dinge verkompliziert, ewig diskutiert, tausendmal berät, kann das auch ein Ausweichen sein, mit dem man sich davor schützt, Glaube konkret werden zu lassen und den eigenen Glauben in die ganz einfache Tat umzusetzen.
Zacharias Heyes OSB (* 1971; Benediktiner)
Dieses Zitat fand ich heute, am 06. Juni 2024, unter der Rubrik „Ora et labora“ in der Gebetszeitschrift „TE DEUM“. Und sofort hatte ich den Impuls der Überschrift: „Ertappt!“
Ja, wir leben in gewaltigen Umbrüchen in Gesellschaft, Staat und vor allem auch in unseren Kirchen! Ja, wir sind gut beraten, nicht alles übers Knie zu brechen und vorher ‚zur Besinnung‘ zu kommen.
Wenn wir uns Gedanken machen und Entscheidungen treffen, was wir verändern können und wollen, dann ist es sicherlich wichtig, zur Ruhe zu kommen und im gemeinsamen Austausch, aber auch im Gebet nötige Entscheidungen vorzubereiten.
Manchmal tun wir uns aber mit Entscheidungen so schwer, weil wir ihre Folgen und Konsequenzen erahnen, die unangenehm vielleicht sogar neues Handeln erfordern. Wie bequem wäre es doch, wenn ‚man es einfach so weiterlaufen lassen könnte, wie bisher?!‘
Das ist aber die große Falle, in die wir nicht treten dürfen.
„Der Geist weht, wo ER will!“ – sagen wir. Und was meinen wir wirklich?
Soll er nach unserer Vorstellung nicht eher da wehen, wo wir ihn haben wollen? Soll er nicht lieber so wehen, wie wir ihn haben wollen?
Schnell in die gläubige Tat zu kommen, ist nicht nur nötig, um möglichst ‚effizient‘ zu sein.
Zacharias Heyes ermutigt uns, schnell ins gläubige Handeln zu kommen, damit wir wirklich gläubig tun!
Denn Glaube hat mindestens genau so viel mit dem Herzen zu tun, wie mit dem Verstand. Und der Verstand sollte nicht so mächtig werden, dass er das Herz daran hindert, seine Arbeit zu tun!
Trauen wir also dem Heiligen Geist und unserem Herzen und haben wir Mut, im Glauben zu handeln!
Denn nur durch denken, bedenken und nichts tun, können wir nicht helfen und niemandem helfen, nicht lieben, nicht dienen, nichts verändern!
Alle Bilder: www.pixabay.com
Trotz-dem
„Lass es uns noch mal versuchen!“ – dieser Satz begleitet mich seit etlichen Jahren!
“ Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit aufstahlt die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi. Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen (…). Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind noch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird.“
(2 Kor. 4, 6-10)
Dieses Wort des heiligen Paulus ist Lesungstext des 9. Sonntags im Jahreskreis, den wir heute begehen.
Worte, die mich hellhörig machen lassen und die mich an vergangene Situationen erinnern, als ich noch in der Gefängnisseelsorge tätig war. Meine damalige Kollegin und Freundin Sr. Bonifatia Keller OP benutzte immer wieder einen Satz, der schon fast zu einem geflügelten Wort wurde. Immer, wenn sich frustrierende Situationen wiederholten, die nötige Prozesse in der Gestaltung unseres Dienstes zum Stocken brachten oder wo wir scheinbar ‚gegen eine Wand liefen‘, sprach sie diese Worte: „Lass es uns noch mal versuchen!“
Bonifatia war ein Mensch, die nicht so leicht aufgab. Sie war kein Dickkopf im klassischen Sinne; aber sie ließ es sich nicht nehmen, immer wieder neue Versuche zu starten, wenn sie von einer Sache überzeugt war. Oft habe ich mich gefragt, woher sie die Kraft dazu bekam, stets neu aufzustehen, auch wenn andere schon längst „die Flinte ins Korn geschmissen hätten“.
Bonifatia war – nicht nur in dieser Hinsicht – eine starke Frau und nach über zehn Jahren nach ihrem Tod profitiere ich von ihrer Haltung und ihrem Geist.
„Lass es uns noch mal versuchen!“ – diese Hoffnung und Zuversicht, dennoch etwas bewegen zu können, kommt mir gerade in letzter Zeit immer gehäuft in den Sinn.
Die Krise der Kirche und die Krise des christlichen Glaubens
Missbrauchsskandale und mangelhafte Missbrauchsaufarbeitung in unserer Kirche, der Massen-Exodus aus unserer Kirche, ausgebremste notwendige Erneuerungen in unserer Kirche, das Schwinden christlicher Werte in unserer Gesellschaft, die Diskriminierung von Frauen und Queer-People in unserer Kirche, Anfeindungen von Kirche und Christ:innen, … –
all das führt bei vielen Menschen in der Kirche zu Resignation, Mut- und Hoffnungslosigkeit.
Katholik:innen verlassen in Scharen unsere Kirche (in der evangelischen Kirche sieht es nicht besser aus). Menschen, die zum ‚inner circle‘ unserer Kirche und unserer Pfarreien gehören, geben ihre selbstgewählten Aufgaben auf und verlassen mitunter die Kirche. Selbst hauptamtliche Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen in der Seelsorge, sei es Kleriker oder Nicht-Kleriker quittieren ihren Dienst!
Es liegt mir fern, diese Menschen zu schelten, denn zu oft kann ich ihre genannten Gründe nachvollziehen; zu oft kann ich innerlich bejahen, dass bei Manchen „die Luft raus ist“ und sie „einfach nicht mehr können“!
Ich sehe andererseits, dass nicht alle Katholik:innen die Kirche verlassen und nicht alle haupt- oder ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen ihren Dienst aufgeben! Warum?
Es wäre zu oberflächlich, ihnen zu wenig Empathie für diese Themen zu unterstellen oder zu meinen, es wäre ihnen einfach nur alles in der Kirche egal! Mitnichten! Es gibt Viele in der Kirche, die „leiden wie Hund“ an der gegenwärtigen Situation der Kirche und des christlichen Glaubens.
Warum geben diese Menschen nicht auf?!
Warum resignieren sie nicht?1
Vielleicht, weil sie etwas von dem spüren, was der heilige Paulus in der heutigen Lesung erwähnt?
Trotz Bedrängnis finden sie noch die Luft zum atmen, können tief Luft holen, sich auf ihre Mitte, auch des Glaubens zurückziehen und konzentrieren und finden in sich eine Tiefe und Weite vor, die sie innere Kräfte sammeln lässt. Sie sind zwar einerseits ratlos und haben keine schnellen Rezepte oder Antworten, wie man aus der Krise herausfinden könnte, haben dennoch die Kraft und den Mut, weiter zu machen; sie besitzen eine Kreativität, die ihnen immer wieder neue Ideen schenkt und ihnen zeigt, was man noch alles ausprobieren könnte.
Bei der Fülle von Fragen und Herausforderungen fühlen sie sich manchmal überfordert und gehetzt von den Ereignissen, aber finden gleichzeitig eine innere Ruhe und Gelassenheit, weil sie sich nicht allein und verlassen fühlen (vor allem nicht von Gottes Heiliger Geistkraft!). Auch sie tragen die „Todesleiden Jesu an ihrem Leib“, wie Paulus es formuliert. Und die Folgen der Leiden sieht man ihnen manchmal sogar an, denn sie gehen auch an ihnen nicht spurlos vorüber.
Und trotz-dem gibt es bei Ihnen diese Energie, nicht aufzugeben und sich das Leben und den Glauben nicht vermiesen zu lassen. Dennoch haben sie die Lust und die Freude am Leben und am Glauben nicht verloren, sondern leben aus einer tiefen und zugleich sichtbaren Hoffnung, dass es da noch was gibt, was sie trägt und was sie sich selber nicht zu verdanken haben; diese ungezügelte Sehnsucht, die Nelly Sachs mal mit den Worten beschrieb:
„Es muss doch mehr als alles geben!“
Anfanghaft spüre ich auch etwas von dieser Kraft in mir. Ich habe weiterhin Lust zu einem Neuaufbruch und -anfang in unserer Kirche. Ich spüre die Überzeugung in mir, dass der Weg weitergehen wird und dass wir in einer historisch sehr bedeutsamenPhase unserer Kirche leben, die ähnlich wie die Zeit um das Vatikanum II ist: eine ‚Kirche im Werden‘ ist nötiger denn je!
רוּחַ = „Heilige Geistkraft“
Glücklich die Menschen, die diese Kraft und Energie in sich spüren! Sie dürfen daran glauben, dass diese Kraft nicht aus ihnen selber kommt, sondern dass sie ihnen eingegossen wird durch die ‚ruach‘ (hebräisch), die Heilige Geistkraft Gottes, die wir am vergangenen Pfingstfest wieder so lebendig gefeiert und verehrt haben.
Mit der heutigen Lesung ermutigt mich der heilige Paulus, sich dieser inneren Kraft und Stärke neu zu vergewissern, aber ohne Arroganz, Hochmut oder Überlegenheitsgefühle, sondern verbunden mit einer tiefen Dankbarkeit und Liebe zu diesem geschenkten Segen Gottes.
Es ist in dieser Zeit eine wirkliche Gnadenerfahrung, wenn man nicht die „Brocken hinschmeißen will“, sondern immer noch die Kraft hat, der inneren Stimme zu lauschen, die in uns spricht: