Nadelöhr

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Predigt zum Sonntagsevangelium vom 28. Sonntag 2021 – 09./10.10.2021

Liebe Schwestern und Brüder,
wenn wir fragen, wie wir „Freiheit“ umschreiben könnten, dann gibt es wahrscheinlich grob zwei Lager.

Die einen verstehen Freiheit als „Freiheit von …“ und die anderen verstehen Freiheit als „Freiheit für …“

Freiheit ist ein Thema, das mit dem heutigen Evangelium zu tun hat.



Keine Kapitalismus-Kritik

Ein Zitat aus dem heutigen Evangelium ist schon sprichwörtlich geworden: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in das Himmelreich kommt.“
Beim Verständnis dieser Schriftstelle ist Vorsicht geboten, um damit keinen Missbrauch zu betreiben:

Ich bin eher ein scharfer Kritiker eines enthemmten Kapitalismus; aber: diese Schriftstelle ist nicht für den antikapitalistischen Klassenkampf geeignet.

Ich möchte auch verdeutlichen, warum?

In diesem Evangelium geht es nur vordergründig um den Reichtum.
Die zentrale Frage ist die Frage nach der Nachfolge und wie sie (glaubwürdig) gelingen kann?

In diesem Fall gerät Jesus an einen reichen Jüngling, den die Botschaft Jesu im Herzen erreicht hat und der gerne Jesus auf dem Weg der Nachfolge und zum ewigen Leben folgen möchte.

Dieses Evangelium hat schon seit der frühen Christenheit die Menschen heraus gefordert.
Nicht nur damals fragen die Jünger:innen Jesu, wer denn dann gerettet werden könne, auch spätere Generationen lässt diese Frage nicht los.
Der frühchristliche Kirchenschriftsteller Clemens von Alexandrien, der im 2./3. Jahrhundert lebte, greift diese Frage in einer kleinen Schrift auf: „Welcher Reiche wird gerettet werden?“.

„Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt!“ Mk 10, 25 – Foto: www.pixabay.com

Der Hintergrund ist: Alexandrien ist eine wohlhabende Metropole, viele Reiche und Superreiche der Antike leben und arbeiten hier. Darunter auch welche, die zum Christentum übergetreten sind.
Alexandrien war das, was heute vielleicht Essen-Kettwig oder Düsseldorf ist.
Die dortigen Christen fragen sich also angesichts ihres Reichtums und dem heutigen Evangelium, ob sie überhaupt eine Chance auf das ewige Leben haben.

Clemens spürt diese Unruhe und greift deshalb zum Griffel.
Clemens lässt sich in dieser Schrift von zwei Grundlagen leiten:

  1. Für Clemens ist Armut kein Wert an sich! Armut ist für ihn ein „Malum“ und gehört verhindert und bekämpft.
  2. Und Reichtum ist für Clemens ebenfalls kein „Malum“, also etwas Ungutes an sich.

Die alles entscheidende Frage für Clemens ist eher eine pragmatische Frage: Wie gehe ich mit dem Reichtum um? – Er bezieht sich dabei auch auf Schrifttexte, die uns dazu auffordern, uns Schätze im Himmel zu verschaffen, weil die irdischen Schätze doch nur vergänglich sind (vgl. Mt 6,20).

Clemens versucht also die Reichen seiner Zeit dazu zu ermutigen, sich zu fragen, wie sie mit Ihrem Reichtum verantwortlich und sozial umgehen können, auch gemäß der Frohen Botschaft.

Solche Haltung erinnert mich an reiche Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft, die von sich aus und für Ihresgleichen fordern, dass sie vom Staat finanziell stärker in die Pflicht genommen werden; sie setzen sich also aus eigener Überzeugung für eine stärkere Besteuerung der Reichen in unserer Gesellschaft ein.

Ich glaube, die Antwort auf die Frage, welcher Reiche gerettet werden kann, liegt in einer übertragenen Sicht auf das Thema „Reichtum“.

Frei für die Nachfolge

„Frei sein …“ – Quelle: www.pixabay.com

Schon sind wir wieder bei der Anfangsfrage nach der Freiheit.

Für manche bedeutet Freiheit = Freisein von. Für andere bedeutet Freiheit = Freisein für.

Hier sehe ich einen Schlüssel zum Verständnis dieses Evangeliums:

Nicht der Reichtum ist das Problem; sondern die Frage, ob Reichtum uns bindet, uns in bestimmte Zwänge drängt, uns dadurch unfrei macht, dem Evangelium zu folgen?

Mit diesem Zugang können wir von den materiell Reichen absehen und Reichtum einmal als das betrachten, was unser Leben „reich“ macht und uns zugleich daran hindern, dem Evangelium in unserem Leben Raum zu geben.
Wir können nur frei werden für das Evangelium, wenn wir uns frei machen von dem in unserem Leben, was uns hindert, uns immer wieder mit der Botschaft Jesu Christi zu beschäftigen und uns in den Geist des Evangeliums zu versenken.

Es geht also meines Erachtens darum, sich selber zu prüfen, wo wir reich im Leben sind, etwas unser „eigen“ nennen, aber letztlich dadurch unfrei werden zur Nachfolge, um das ewige Leben zu gewinnen.




Notlüge

„Der Erfinder der Notlüge liebt den Frieden mehr als die Wahrheit.“ (Zitiert nach „Die Rosenheim-Cops)

Das sind fast philosophische Wahrheiten im Vorabendprogramm des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks! 😉




“ … er blieb ihnen verborgen …“

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Lk 9,45:
„Doch die Jünger verstanden den Sinn seiner Worte nicht; er blieb ihnen verborgen, sodass sie ihn nicht begriffen.“

Beim Evangelisten Lukas finden wir in der heutigen Tageslesung diesen ‚mysteriösen‘ Satz.

Lukas, der uns in wunderbarer Erzählweise von der Geburt Jesu berichtet, so dass vor unserem geistigen Auge sehr konkrete Bilder entstehen, bietet uns heute diese ’schwere‘ Kost.

Wie passt das zusammen?



Vielleicht liegt darin eine gewisse ‚Logik‘, wenn man sich mehr und mehr mit Jesus Christus und seiner Botschaft beschäftigt.

Am Anfang scheint alles in sehr klaren Bildern. Doch dann wird es zunehmend schwieriger, die Frohe Botschaft unmittelbar zu verstehen. Den narrativen Erzählungen werden mehr und mehr eine Bildsprache hinzugefügt, die aber eher mittelbar als unmittelbar zu verstehen sind.
In die Erzählungen des Lebens und Wirkens Jesu gesellen sich mehr und mehr bildhafte Texte, Gleichnisse, Symbolsprache. Diese liegen sicherlich auch in der nahöstlichen oder orientalen Erzählkultur begründet.

Aber sie ‚zwingen‘ einen geradezu auch mehr dazu, bei der Sache zu bleiben. Schneller Konsum dieser Erzählungen mit Gleichnissen, Heilungen und anderen Wundererzählungen scheint nicht mehr möglich zu sein.

Oberfläche ./. Tiefgang

Ist das Oberflächliche am Anfang unserem Geist sehr leicht zugängig, erfordert eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Botschaft Christi mehr Tiefgang. Doch in der Tiefe wird es nicht klarer sondern unklarer.
Es scheint in der ‚Natur‘ des Evangeliums zu sein: je tiefer man vordringen möchte, um so unklarer wird sie. Je mehr man sich mit ihr beschäftigt, um so mehr Fragen kommen auf.

Thomas von Aquin als Beispiel

Er, der große Theologe, wurde unter anderem durch seine „Summe der Theologie“ bekannt. Meterlange Buchreihen von höchsten theologischen Abhandlungen kamen aus der Feder dieses Theologen. Vielleicht ist die Fülle seiner Abhandlungen zugleich ein Zeichen seiner eigenen Suche, die Frohe Botschaft verstehen, begreifen zu wollen?
Kurz vor seinem Tode wurde er aufgefordert, unbedingt seine theologischen Gedanken weiter nieder zu schreiben, doch er soll geantwortet haben:

„Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe.“ – („omnia quae scripsi videntur michi palee“)

Am Ende seines Lebens sieht Thomas ein, dass man Gott und dass man Jesus Christus nicht begreifen kann. Er mag sich noch so sehr und hochtheologische Gedanken über Gott machen können, aber was Gott ist, lässt sich nicht erfassen.
Auch für den großen Gelehrten bleibt Gott der Unfassbare.

Ähnliches kann man auch von Jesus Christus sagen.
Vieles ist uns von ihm so vertraut. Hören wir bestimmte Stichwörter aus den Evangelien, ‚wissen‘ wir schon, wie es weitergeht.

Weiterhin Suchender und Fragender

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Wer sich aber immer wieder mit den Schriftstellen im Evangelium beschäftigt, wird ent-decken, dass es immer wieder etwas Neues zu ent-decken gibt, so vertraut einem auch diese Schriftstellen sein mögen.

Das finde ich – auch noch nach Jahrzehnten – so faszinierend am Evangelium und an Jesus Christus uns seiner Botschaft.
Mal meine ich (ihn) begriffen zu haben, ein ander Mal habe ich mehr Fragen als Antworten.

Und so bleibe ich ein ewig Suchender und Fragender mit einer für mich entscheidenden Frage:

Was möchte ER mir sagen?

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Klingt vielleicht naiv, aber für mich ist es der beste geistliche Zugang zur Botschaft Jesu Christi, weil ich davon überzeugt bin, dass ER für mich eine Botschaft hat – wie für jede andere Person auch.

Wir können gemeinsam suchen, aber jede und jeder von uns wird seine je eigenen Antworten erhalten, auch wenn manche Antworten äußerlich übereinstimmen, so haben sie für jeden von uns einen ganz eigenen Stellenwert, der sich an unserem ganz konkreten Leben festmacht und uns in einer ganz bestimmten Lebenssituation erreicht.

Das Wort aus dem heutigen Evangelium: „… er blieb ihnen verborgen …“ ist deshalb für mich kein Grund zu Resignation, sondern ein Grund, mich immer wieder und weiter auf die Suche nach IHM zu machen und mich von SEINER BOTSCHAFT ansprechen zu lassen.


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Herr Jesus Christus,
„Gottheit tief verborgen, betend nah ich dir“ – so
betete Thomas von Aquin einst zu dir.
Ich bin weder ein großer Theologe
noch ein begnadeter Dichter.
Deshalb spreche ich in ‚meiner‘ Sprache:

Du bleibst auch mir manchmal verborgen
und ich verstehe dich nicht.

Das ist manchmal frustierend,
besonders dann, wenn ich Fragen habe
und Antworten suche
und sie vermeintlich nicht bekomme.

Dennoch spüre ich
in mir
immer wieder – und noch –
die Motivation, nach dir
zu suchen;
dich verstehen zu wollen,
damit du dich mir
ent-bergen kannst.

Halte die Sehnsucht
nach dir
nach deinem Wort
nach deiner Liebe

in mir lebendig

bis zum letzten Atemzug.

Amen!

(c) Gerd Wittka, 25. September 2021




„… und nahm ein Kind in seine Arme …“

TRIGGER-GEFAHR! – ’sexualisierte Gewalt‘! – TRIGGER-GEFAHR! –

„… Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme …“ (Mk 9, 36)

Wieviele Frauen und Männer, Jugendliche und Kinder werden – wenn sie an diesem Sonntag diese Schriftstelle hören – innerlich zusammen zucken?!
Wieviele Menschen wird in den Sinn kommen, was an zigtausenden Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen durch kriminielle Verbrechen sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit durch kirchliche Amtsträger an Leid geschehen ist?!

Auch wenn ich als Theologe weiß, dass es bei diesem Beispiel Jesu um was ganz anderes geht, kamen mir an dieser Textstelle die unzähligen Nachrichten von sexualisierter Gewalt und deren Vertuschung in den Sinn.

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Dabei war es früher einmal ganz anders.
Als Kind und Jugendlicher – als ich noch nichts wusste von diesen abscheulichen Verbrechen – war diese Textstelle der Inbegriff einer herzlichen und liebevollen Begegnung zwischen dem Kind und Jesus. Hier ging es um Ansehen, Respekt und Würde auch eines noch so kleinen Wesens, das aus gesellschaftlicher Sicht kaum Beachtung fand.

Auch ohne dem Hintergrund von sexualisierter Gewalt würden wir heute wahrscheinlich etwas skeptischer auf ein solches Verhalten Jesu blicken.
Denn heute wissen wir, dass Übergriffigkeit schon sehr schnell geschehen kann.
Sie kann schon geschehen, wenn man ein Kind – ohne dass es damit einverstanden ist – „in ihre Mitte“ stellt und es so ungefragt „in seine Arme“ nimmt.

Ja, ich höre sie schon, jene, die mir unterstellen, man dürfe es auch nicht übertreiben!

Ich finde, die Ereignisse und Nachrichten der letzten Jahre – gerade auch aus dem Umfeld der Kirche, aber auch darüber hinaus – können uns gar nicht sensibel genug werden lassen für das Thema „Übergriffigkeit“.

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Von Erwachsenen selber gar nicht so empfunden, können sie für Kinder verstörend sein.

Apropos „Ansehen, Respekt und Würde“: Ich finde mehr und mehr, dass man schon bei Begegnungen mit Kleinkindern und Kindern dem heute eher gerecht wird, wenn ich sensibel darauf achte, welche Signale von Kindern ausgehen, wenn sie anderen Menschen begegnen? Sind sie erfreut und offen, gehen sie vielleicht selber auf Erwachsene zu, oder machen sie hingegen einen verunsicherten oder gar ängstlichen Eindruck? Schauen sie mich musternd und skeptisch an mit versteinerter Miene oder sind sie unbefangen oder gar fröhlich.

Ich jedenfalls würde heute Kinder – so ohne Weiteres – nicht in die Arme nehmen, wie wir es heute von Jesus hören.

Ein Beispiel: Wenn Eltern mit ihren Kindern zur Kommunionempfang kommen aber offensichtlich ist, dass das Kind noch nicht zur Kommunion gegangen ist, dann ist es mittlerweile gute Angewohnheit, diese Kinder an der Hand ihrer Eltern nicht unbeobachtet zu lassen, sondern sie zu segnen.
Manche, die die Kommunion austeilen, tun dies selbstverständlich und ohne großes Fragen, machen dem Kind ein Kreuzzeichen auf die Stirn und … fertig!

Ob das Kind es gewollt hat?!
Sicher ist man sich da nur, wenn man eindeutige Signale von es bekommen hat, dass es das auch möchte.

Seit Jahren habe ich es deshalb bei mir zur Regel gemacht, selber in diesem Augenblick in die Knie und auf Augenhöhe mit dem Kind zu gehen (sofern das noch mein rechtes Kniegelenk einigermaßen geschickt zulässt) und das Kind zu fragen, ob ich es segnen darf. Zumeist verbinde ich damit auch dann die Frage, ob es mir seinen Namen sagen würde? Nennt es mir dann seinen Namen, lege ich dem Kind eine Hand auf und spreche – unter Namensnennung – einen Segen.

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Ich habe für mich gefunden, dass das ein respektvoller Umgang mit dem Kind ist. Was denken Sie darüber?

Kommen wir aber zur Schriftstelle dieses Sonntags zurück:

Jesus will ein Beispiel setzen, dass er sich mit den Kleinen und Geringgeachteten solidarisiert.
Er will deutlich machen, wer Menschen aufnimmt, die wenig geschätzt und geachtet werden, der nimmt IHN gleichsam selber auf.

Eine Heiligenlegende eines Volksheiligen, des hl. Martin von Tours, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt, weil dieser sonst zu erfrierend droht, ist ein gutes Beispiel für die Übersetzung des heutigen Evangeliums in unseren Alltag.

Doch leider können wir – unter dem Zeichen der Verbrechen sexualisierter Gewalt in den Kirchen – und auch anderswo – so unbefangen auch diese Textstelle nicht mehr lesen, ohne uns darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, wie wir die Würde jener zum Recht verhelfen, die klein, hilfsbedürftig, entrechtet werden, um an und mit ihnen ein Beispiel zu geben, wie wir ihnen das Ansehen verschaffen, dass ihnen von Gott gegeben ist und sie in SEINEN Augen groß sein lässt.

Ich finde, wenn uns diese Textstelle des heutigen Sonntags hilft, sensibler mit den Themen „Übergriffigkeit“, „Respekt“, „Missbrauch“ und „sexualisierter Gewalt“ umzugehen, dann kann ich gut damit leben, wenn es auch nicht das zentrale Thema dieser Textstelle ist.

Aber angesichts der Schwere dieser Verbrechen gegen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlenen darf uns kein Text aus dem Evangelium dafür zu schade sein, diesen Text auch unter diesem Vorzeichen zu lesen, zu interpretieren und zu verstehen!




Gedanken-Experiment: Sinn

In manchen Situationen erlebe ich, dass Menschen die Frage stellen: „Warum?“
Das ist oft der Fall, wenn eine schwere Krankheit diagnostiziert wird oder wenn ein Mensch plötzlich oder sehr früh stirbt.

Hinter dieser Frage nach dem „Warum?“ steht die Frage nach dem Sinn.

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Wir haben uns daran gewöhnt, die Frage nach dem Sinn, zum Beispiel nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn meines Lebens wie selbstverständlich zu stellen. Und wie selbstverständlich suchen wir darauf eine Antwort.

Ich habe auch immer noch die Hoffnung, dass mein Leben einen tieferen Sinn hat.

Aber angesichts so mancher vermeintlicher ’sinnlosen‘ Erfahrungen, wage ich mich immer mehr zu fragen, ob die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt sinn-voll ist?



Da sehe ich Menschen in anderen Ländern, die nur dahin vegetieren, die nicht leben und auch nicht sterben können, die unterdrückt werden oder Opfer von Gewalt werden. Ihr Leben erscheint mehr wie ein biologisches Dahinvegetieren. Ob diese Menschen überhaupt die Zeit haben, sich die Frage nach ihrem Lebenssinn zu stellen?
Oder können sich diese Frage erst Menschen stellen, die dafür den Kopf frei haben, die nicht um das nackte Überleben kämpfen müssen, die nicht gerade vom Leid zerfressen werden?

Daher wage ich es einfach mal, ein Gedanken-Experiment zu wagen:

Was würde mit mir passieren, wenn ich von der Prämisse ausginge, dass es überhaupt keinen – transzendenten – Sinn in meinem Leben gibt?

Natürlich kann ich einen Sinn im rein Funktionellen suchen und finden.
Dann wäre unser Leben aber kaum unterschieden von dem Leben anderer Kreaturen, die gleichsam lediglich eine biologische Nische ausfüllen, wo es um das Leben und Überleben und um die Erhaltung der Art geht. Zugleich wäre dieses Leben von „Fressen und Gefressenwerden“ bestimmt.

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Was würde sich also in meinem Leben verändern, wenn ich davon ausgehe, dass mein Leben in diesem Sinne „keinen Sinn hat“; wenn es zum Beispiel bei religiösen Menschen nicht auch um die Frage nach dem Leben danach ginge?
Was wäre, wenn es überhaupt kein „danach“ gäbe? – Wofür würde ich dann noch leben wollen?

Woher würden wir Visionen entwickeln für eine bessere Zukunft, wenn nicht nur die reiner Erhaltung der Art dahinter stünde (BTW: Bei dem derzeitigen Umgang mit der Klimakrise bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass selbst diese primitive Form der Existenz einer Art, sich um die eigene Erhaltung der Art zu kümmern, bei uns noch nicht einmal – mehr – vorhanden ist; sonst würden wir mit viel mehr Entscheidenheit diese Herausforderung angehen!)?

Stellte ich also die Frage nach dem Sinn mit der Frage nach dem „danach“ in Frage, müsste ich weiter suchen.
Dann würde ich irgendwann zu der Frage kommen, warum ich JETZT noch leben möchte?

Die Sinnfrage würde also dann mehr und mehr auf die Gegenwart, auf den Augenblick, auf das Jetzt gerichtet werden müssen.
Und an diesem Punkt entdecke ich auch als religiöser Mensch das Potential für eine Antwort. Dann werde ich nämlich irgendwann auch an den Punkt gelangen, wo ich lernen muss, das Leben so zu leben und anzunehmen, wie es ist.
Dann wird die Sinnfrage sich allein in diesem Augenblick entscheiden müssen.

„Es ist, was es ist…“ – so Worte von Erich Fried.

Wer sich frei macht von der Frage, was ‚einmal mein Leben Sinn geben soll‘, der wird mehr und mehr auf die Gegenwart geworfen sein.
Was ist jetzt? – „Es ist, was es ist…“ – Das verweist uns auf den Augenblick.

time, Quelle: www.pixabay.com

Auf den Augenblick verwiesen zu sein, wenn es mir ‚gut‘ geht, wenn ich mein Leben gut meistern kann, wenn ich frei bin von Not, Leid oder Krankheit – das ist keine Kunst.
Dann kann ich sogar eine tiefere Zufriedenheit entwickeln, die aus der reinen Freude am Leben erwächst.

Deutlich problematischer wird es aber, wenn mein Leben in diesem Augenblick überhaupt nicht schön ist, sondern von Krankheit, Gewalt, Leid oder Not gekennzeichnet ist.

Da wird es sehr schwierig, aus dem Augenblick heraus zu leben und neue Kräfte zu entwickeln, um durch diese schwere Zeit zu kommen.

Da wird es wohl nötig sein, Visionen zu entwickeln, wofür ich (noch) leben möchte?

Jetzt wird es schwierig für mich, weiter zu denken: entweder ich nehme das Leben so an, wie es ist, oder aber – ohne eine Antwort nach einem Sinn – mein Leben wird sinn-los und es steigt die Möglichkeit, mein Leben vor der Zeit zu beenden.

Es geht auch noch anders: ich verknüpfe die Frage nach dem Sinn des Lebens doch mit einer ‚transzendenten‘ Anwort nach dem Sinn des Lebens.
Was aber, wenn das nur ein raffinierter Kniff der eigenen menschlichen Psyche ist, um nicht vorzeitig aus dem Leben treten zu wollen.

„Beyond“, Bild von Karin Henseler auf Pixabay

Die Frage nach dem Sinn des Lebens für ein ‚Leben danach‘ kann nur eine Antwort aus einer Hoffnung heraus sein; eine Hoffnung, die wir zu den irdischen Lebzeiten niemals erfüllt sehen werden.

Eine liebe Freundin von mir (und Ordensfrau und Kollegin) sagte immer wieder vor ihrem Sterben: „Ich habe noch viele offene Fragen, die ER mir wird beantworten müssen.“
Diese Freudin war durchdrungen vom Glauben an das zukünftige Leben, aber ihr war auch klar, dass manche Antworten auf den Sinn werden warten müssen, jenseits der Zeit.

Können wir uns aber damit zufrieden geben, wenn wir die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen?
Ich fürchte: wir müssen es!

Es sei denn, wir lernen das Leben so zu leben, wie es ist, ohne nach dem Sinn zu fragen, ohne die Frage nach dem „Warum?“ beantwortet haben zu müssen.

„Es ist, was es ist….!




Liebe wirkt …

… befreiend

Sprüche 10,12: „…Liebe deckt alle Vergehen zu“

Die beiden heutigen Tagesheiligen – Kornelius und Cyprian – verbindet eine Angelegenheit: während ihres Lebens ging es um die Frage, wie mit Christ:innen umzugehen sei, die – meist unter Drohung – den heidnischen Göttern geopfert hatten.
Könne man diesen Schwestern und Brüdern vergeben und sie wieder in die volle Gemeinschaft der Gläubigen aufnehmen?

Im heutigen Tagesevangelium (Lukas 7, 36-50) – das wohl ‚passend‘ zu diesen Tagesheiligen ausgesucht worden ist -, finden wir im Handeln Jesu eine Antwort => Wem viel Schuld vergeben wurde, kann viel lieben!



Ich stelle mir aber zugleich die Frage, ob diese ‚Wahrheit‘ auch in umgekehrter Richtung gilt: Wer viel liebt, dem wird viel vergeben?

Im Buch der Sprüche finden wir den Vers, den ich oben über den Beitrag gesetzt habe: „(Die) Liebe deckt alle Vergehen zu.“

Offenbar gibt eine wechselseitige Beziehung zwischen Liebe und Vergebung.

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Vor einige Tagen ’sah‘ ich einen Teil einer ‚Soap‘. Dort wurde erzählt, dass eine Ehefrau ihren Ehemann ‚betrogen‘ hatte, ausgerechnet auch noch mit ‚dem besten Freund‘ ihres eigenen Mannes.
Der Ehemann setzt deshalb alles dran, die Scheidung der Ehe voran zu treiben. Im Verlauf der Folge wird angedeutet, dass es zwischen dem beiden Ehepartnern aber nicht mehr so richtig gut lief; die gegenseitigen Bedürfnisse gerieten wechselseitig aus dem Blick.

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An dieser Stelle kam mir der Gedanke: die Ehe hätte vielleicht noch eine gute Chance gehabt, wenn beide offen über diesen Zwischenfall gesprochen und vielleicht auch heraus gefunden hätten, dass das eine ‚Dummheit‘ gewesen ist, die auch aus einer menschlichen Schwäche heraus entstanden ist.
Dabei spielt es keine Rolle ob und wer die Schuld hat.

Vielleicht hätte es gereicht, dass beide eingesehen hätten, dass niemand ohne Fehler und ohne Schwächen ist; dass ein einmal gegebenes Versprechen auch so unter Druck geraten kann, dass es – zumindest kurzzeitig – nicht gehalten werden kann.

Mit dem Auge der Liebe hätten beide erkennen können, dass sie auch nur Menschen mit Fehlern und Schwächen sind. Mit den Augen der Liebe hätten beide erkennen können, was sie sich noch immer beide für einander bedeuten (was auch zum Ende der Folge deutlich wird).

„Die Liebe deckt alle Vergehen zu“ – das meint für mich mehr als nur stickum ‚den Mantel des Schweigens‘ darüber zu legen.
Das meint, einen Konflikt, eine fehlerhafte Situation gemeinsam aus der Liebe heraus anzuschauen, darüber zu sprechen und sich bewusst zu werden, wie sehr wir gegenseitig auf Vergebung und Liebe angewiesen sind.

„Liebe deckt alle Vergehen zu“ meint dann, eine Kraft, eine Macht in einem Konflikt zu besitzen, die über meine eigene Befindlich- und Verletzbarkeit hinaus reicht und die trotz einer persönlichen Verletzung verzeihen kann.

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Mich bewegen immer wieder Begegnungen mit Paaren, die schon Jahrzehnte miteinander verbunden sind; darunter manche, die fünfzig oder sechzig Jahre oder noch mehr miteinander verheiratet sind.

Ich glaube, ich brauche kein Hellseher zu sein, wenn ich behaupte, dass es auch in diesen Beziehungen Augenblicke des Streits, der Konflikte und der gegenseitigen Enttäuschung oder vielleicht sogar Verletzungen gegeben hat. Ich glaube, ich brauche kein Hellseher zu sein, um erahnen zu können, dass viele dieser Herausforderungen in der Beziehung nur dann ‚gelöst‘ werden konnten, weil das Paar gegenseitig bereit war, sich von Fehlern gegenseitig los-zu-sprechen und Schuld zu ver-geben.

Ein Blick in unseren Alltag stellt uns sicherlich viele Gelegenheiten vor Augen, wo wir erkennen können:

„Wem viel Schuld vergeben wurde, kann viel lieben!“ aber auch: „Wer viel liebt, kann viel Schuld vergeben!“