Mein Platz…
Wüsste ich nicht, wo mein erfüllender und segensreicher Platz in der römisch-katholischen Kirche ist, ich wäre schon längst ausgetreten!
Wüsste ich nicht, wo mein erfüllender und segensreicher Platz in der römisch-katholischen Kirche ist, ich wäre schon längst ausgetreten!
Manche verstehen es nicht, wie es sich mit öffentlichen Statements verhält.
Wer öffentliche Statements abgibt, aber keinen öffentlichen Diskurs will, sollte doch lieber schweigen.
Öffentliche Kommunikation ist keine Einbahnstraße!
Viele meiner seelsorglichen Kolleginnen und Kollegen haben es vor mit unternommen, sich in den letzten Tagen zu dem alles dominierenden Thema in meiner Kirche zu äußern: dem Gutachten über den Umgang des Erzbistums München-Freising mit Fällen von sexualisierter Gewalt durch Geistliche in den letzten Jahrzehnten.
Braucht es da auch noch Äußerungen von mir?
Wird sie überhaupt gewünscht, gewollt, wahrgenommen oder gelesen?
Viele Gedanken und Gefühle prägen meinen Alltag in diesen Tagen und eigentlich ist alles noch so chaotisch, unstrukturiert und wenig stringend.
Da gibt es diese Gefühle von tiefer Traurigkeit, wenn ich an das Leiden der Opfer und Betroffenen denke, da gibt es Wut und Zorn, Ohnmacht und Ratlosigkeit und zugleich ein inneres Verlangen, nicht weiter zuschauen zu wollen. Wie gerne würde ich auf den Tisch hauen …!!!
Und dann gibt es viele Gedanken:
Meine Sprachlosigkeit lässt mich schweigen. Doch mein Schweigen darf nicht endlos sein und mich von der Verantwortung und Verpflichtung befreien, dort zu reden und zu agieren, wo es nötig ist und wie es meinem Auftrag entspricht.
Die Herausforderung ist, sich dieser Thematik mit aller Dringlichkeit zu stellen, ihr den Platz zuzubilligen, den sie jetzt haben muss und zugleich auch die anderen Aufgaben nicht aus den Augen zu verlieren.
Das ist ein Spagat und unsere Herausforderung in dieser Zeit.
Wer sich ernsthaft mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzt, sich wirklich intensiv mit dem Leiden der Opfer und Betroffenen beschäftigt und das alles auch wirklich an sich heran lässt, ist in Gefahr angesichts des Grauens solcher Taten und ihrer Folgen sprachlos zu werden.
Doch gerade das darf nicht passieren: Sprachlosigkeit darf nicht in unendliches Schweigen oder gar in Lethargie münden! Das wäre Wasser auf die Mühlen derer, die nach wie vor vertuschen und relativieren wollen; die noch immer nicht verstanden haben oder wollen …!
In dieser Zeit suche ich selber nach geistlichen Impulsen, die mir helfen, nicht (mehr) sprachlos zu sein, nicht in Lethargie und Untätigkeit zu verfallen, nicht zu resignieren oder gar weg zu laufen.
Ich spüre in mir die Aufforderung, zu bleiben und die Notwendigkeit, das zu tun, was ich tun muss, auch wenn es nicht viel ist.
In meiner Suche stieß ich – mal wieder – auf die Regel des heiligen Benedikt, des Vaters des abendländischen Mönchstums.
Im Prolog gibt es einen Absatz, der mir in dieser Zeit ein hilfreicher Impuls ist:
„… Stehen wir also endlich einmal auf! Die Schrift rüttelt uns wach und ruft: „Die Stunde ist da, vom Schlaf aufzustehen.“ Öffnen wir unsere Augen dem göttlichen Licht und hören wir mit aufgeschrecktem Ohr, wozu uns die Stimme Gottes täglich mahnt und aufruft: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!“ Und wiederum: „Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ Und was sagt er? „Kommt, ihr Söhne, hört auf mich! Die Furcht des Herrn will ich euch lehren. Lauft, solange ihr das Licht des Lebens habt, damit die Schatten des Todes euch nicht überwältigen.“ Und der Herr sucht in der Volksmenge, der er dies zuruft, einen Arbeiter für sich und sagt wieder: „Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?“ Wenn du das hörst und antwortest: „Ich“, dann sagt Gott zu dir: „Willst du wahres und unvergängliches Leben, bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das Böse und tu das Gute; suche Frieden und jage ihm nach! Wenn ihr das tut, blicken meine Augen auf euch, und meine Ohren hören auf eure Gebete; und noch bevor ihr zu mir ruft, sage ich euch: Seht, ich bin da.“…“
aus: Regel des heiligen Benedikt, Prolog
Aus diesem Prolog nehme ich Worte wahr, die mir nachgehen und mich buchstäblich heraus-fordern.
Eine Kollegin und Freundin von mir, Sr. Bonifatia Keller OP, (sie war Dominikanerin und ich habe mit ihr lange in der Gefängnisseelsorge gearbeitet) hatte ein fast schon geflügeltes Wort, wenn es nicht so lief, wie wir es erhofft hatten: „Lass es uns noch mal versuchen!“
Immer wieder konnte sie diesen Satz sagen und ich hatte nie den Eindruck, dass es eine hohle Floskel war, sondern das dieser Satz aus ihrem Mund etwas Energisches und Kraftvolles hatte. Hinter diesem Satz stand noch ganz viel Motivation, weiter zu machen, trotz Rückschlägen oder vermeintlicher Erfolglosigkeit.
Sie hat mir vorgelebt, was Benedikt in seinem Prolog schreibt: unsere (geistigen und geistlichen) Augen dem göttlichen Licht in unserem Leben zu öffnen, d.h. danach Ausschau zu halten, was Gottes Geist uns in dieser Zeit sagen und zeigen will!
Dass gerade in dieser Zeit ich wieder mehr an Pfingsten und Geistsendung denken muss, scheint mir kein Zufall zu sein.
Kann nicht gerade diese Zeit eine Hoch-Zeit des Heiligen Geistes sein? Muss sie es nicht sogar sein?
Angesichts der Turbulenzen, der emotionalen Betroffenheit und der Notwendigkeit einer moralischen und geistlichen Reinigung können wir uns nicht auf uns allein verlassen: auf unseren (heiligen) Zorn, auf unsere Empathie!
Das alles kann Antrieb und Motivation sein, aber darin liegt selbst nicht die Antwort auf das, was jetzt von uns getan werden kann und muss.
„Ohne SEIN lebendig Weh’n, kann im Menschen nichts besteh’n, kann nichts heil sein und gesund…“ – so heißt es in der Pfingstsequenz.
Ich spüre in dieser Zeit, dass wir auch wieder mehr nach dem Heiligen Geist rufen müssen, dass wir durch sein Wirken unsere Augen dem göttlichen Licht öffnen können und mit aufgeschreckten Ohren hören, was Gottes Stimme uns in dieser Zeit mahnt; dass wir unsere Herzen in dieser Zeit nicht verhärten unter dem Eindruck von Trauer, Wut, Schmerz, Zorn sondern zu hören, was SEIN Geist uns und unseren Gemeinden sagen will.
Geist Gottes,
du Heilige, Geistkraft!
Mein Sprechen, meine Worte,
sie scheinen nicht ausdrücken zu können,
was in mir vorgeht.
Trauer, Wut und Ratlosigkeit
bestimmen mein Dasein;
ich kann und mag meinen Blick
und meine Gedanken
nicht abwenden
von dem Leid
und der Gewalt
unter dem Deckmantel kirchlichen Lebens
durch jene, die eigentlich
die frohe Botschaft bezeugen sollen.
Mein Glaube von einer Kirche,
die das Gute und der Liebe
Raum geben will,
ist erschüttert.
Ich möchte mich halten,
klammern
an das,
was mich hält
und nicht ab-hält
weiter zu wirken
an das, was ich glaube:
dass Jesus Christus
Liebe und Befreiung
nicht nur gepredigt,
sondern gelebt
hat
damit diese
Liebe und Befreiung
auch heute noch
Wirk-lichkeit
ist.
Geist Gottes,
ruach
du Heilige, Geistkraft
atme du in mir
wo mir die Luft weg bleibt;
deine Geistkraft
durchdringe mich
wo ich mich nicht
aufraffen kann;
lass es mich aushalten
an der Seite
der Opfer und Betroffenen
stehen zu können
und an einer Kirche mitwirken
von der ich glaube,
dass du sie SO nicht gewollt hast.
Befähige uns zu einer
Geschwisterlichkeit,
in der wir uns gegenseitig
stützen und
bestärken
im Einsatz
für eine Kirche
nach DEINEM Willen.
(05.02.2022, Gerd Wittka)
Was heute, am 20.01.2022, durch das sogenannte „Münchener Gutachten“ an Fehlverhalten in meiner Kirche zutage tritt, auch insbesondere der Umgang des Papst em. Benedikt XVI., alias Joseph Kard. Ratzinger (seinerzeit Erzbischof von München-Freising), dass kann ich – voller Erschütterung – nicht anders benennen, als „Schwarze Nacht“.
Dieses Gutachten bestätigt das System der Vertuschung und auch noch die offenbare Realitätsverzerrung oder den Realitätsverlust von kirchlichen Würdenträgern auch bei der Frage, was „sexualisierte Gewalt“ bzw. „sexueller Missbrauch“ ist.
Das Gutachten, so Berichterstatter, verwendet nicht das Wort „Lüge“, aber macht deutlich, dass offenbar auch heute noch die früheren Verantwortungsträger weiterhin die Wahrheit leugnen und sie abstreiten.
Als Bild zu diesem Beitrag habe ich ein dunkles Bild gewählt, aber mit einem hellen Spalt einer sich öffnenden Tür.
Ja, ich bin sprachlos – bisweilen verzweifelt – aber in erster Linie daran, was den Opfern und Betroffenen an unsäglichem Leid weiter zugemutet wird!
Allein aus deren Sicht muss die Frage gestellt werden, wie es weiter gehen kann?
Der öffentliche Druck trägt sicherlich einen großen Teil dazu bei, dass Vieles nun in der Öffentlichkeit und auch in der Kirche sichtbar wird und diskutiert wird.
Eine Vielzahl von Katholik:innen verlassen aber auch die Kirche – wer würde es ihnen verdenken können.
Matthias Katsch, der Sprecher der Opfer-Initiative „Eckigen Tisch“ hat heute bei Phönix TV im Tagesgespräch einen wichtigen Aspekt benannt, warum die hohen Austrittszahlen in der Kirche aber auch kontraproduktiv sein könnten.
Hören wir da mal rein:
Das ist nämlich die Crux, dass die Kräfte, die in der Kirche – aufgrund ihrer berechtigten kritischen Haltung – von innen heraus die Flammen für nötige Veränderungen brennen lassen könnten – diesen Flammen den Sauerstoff nehmen, damit von innen her sich auch was bewegt.
Ich weiß von einigen Menschen, die bereit sind, trotz allen Leidens an und in der Kirche, dabei zu bleiben und von innen her an einer Veränderung zu arbeiten.
Solche Menschen brauchen wir; solche Menschen brauche auch ich, als amtlicher Vertreter meiner Kirche.
Ich würde gerne alle jene bitten, die überlegen zu gehen, ob sie nicht vielleicht doch bleiben können?
Ich möchte sie gerne ermutigen: vernetzt euch mit Euresgleichen, vernetzen wir uns untereinander und sehen diesen inneren Kampf auch als eine Herausforderung unseres Glaubens an.
Denn ich bin davon überzeugt, wer sich in dieser Frage auf die Seite der Opfer stellt, an dessen Seite steht Christus selber.
Haben wir den Mut, in Christi Namen diesen Weg der inneren Erneuerung und Reformation zu gehen?!
Nachtrag vom 20.01.2022, 19.48 Uhr:
Das ganze Gutachten ist auch online gestellt und kann heruntergeladen werden.
Besonders lesenswert ist für unser Bistum Essen der „Sonderband Fall H.“ in diesem Gutachten. Aber hier ist ein ganz dicker „TRIGGER“-Vermerk angebracht. Für Betroffene und Opfer sicherlich unerträglich zu lesen.
https://westpfahl-spilker.de/wp-content/uploads/2022/01/WSW-Gutachten-Erzdioezese-Muenchen-und-Freising-vom-20.-Januar-2022.pdf
Über drei Stunden lang habe ich das Gutachten studiert, insbesondere den Sonderband zu dem Essener Priester H.!
Es zeigt, wie sich damals Verantwortliche verhalten haben; es zeigt aber auch, wie damals Verantwortliche sich heute dazu noch positionieren.
Ein besonderes Schlaglicht liegt natürlich auch auf den damaligen Erzbischof von München-Freising, Kard. Joseph Ratzinger, nachfolgend Benedikt XVI.!
Er kommt nicht gut weg. Seine Einlassungen sind für mich nicht wirklich glaubwürdig, er widerspricht sich und macht Ausflüchte formaler Art.
Mir hat dieser Sonderband aber auch gezeigt, dass ab 2010 das Bistum Essen und auch unser Bischof eine klare Linie gefahren haben; dass es zum Beispiel darum ging, den Priester H. aus dem Klerikerstand zu entlassen, was aber leider wegen Formalitäten von Rom aus verhindert wurde.
Am vergangenen Montag, den 10.01.2022 hat in unserem Bistum Essen der „Tag der pastoralen Dienste“ stattgefunden. Wegen der Corona-Pandemie aber nur als online-Veranstaltung.
Gut zweihundertundvierzig Kolleg:innen, die in unserem Bistum in der Seelsorge tätig sind, haben daran teilgenommen: Frauen und Männer, Gemeindereferent:innen, Pastoralreferent:innen, Diakone, Priester und Bischöfe.
Entstanden ist dieses Treffen aus dem früheren „Priestertag im Bistum Essen“ – damals noch ein erlauchter, klerikaler Kreis.
Uns wurde als Seminaristen vermittelt, dass es eine Ehre sei, daran schon teilnehmen zu dürfen.
Doch für mich war das damals eine ‚fremde‘ Veranstaltung: Kleriker, von denen die meisten untereinander wussten, dass sie Kleriker sind, fanden sich in ‚geballtem klerikalen Schwarz‘ zusammen. Darunter auch einige, von denen ich wusste, dass sie sonst selten so klerikal in Erscheinung traten.
Ich war auf jeden Fall froh, als diese Veranstaltung geweitet wurde und nun alle Seelsorger:innen unseres Bistums zu diesem Tag einlud: Ungeweihte und Geweihte, Frauen und Männer.
Für mich ist diese ‚bunte Mischung‘ wohltuend und erfrischend.
An den vergangenen Montag musste ich denken, als ich jetzt die Lesung aus dem Neuen Testament des heutigen Sonntags las.
Sie steht im 1. Korintherbrief, Kapitel 12, Verse 4-11.
Darin lese ich die Worte: „Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: ER bewirkt alles in allen.“
An solchen Tagen, bei solchen Begegnungen, wie dem „Tag der pastoralen Dienste im Bistum Essen“ erlebt man diese verschiedenen Gnadengaben, die verschiedenen Dienste und verschiedenen Kräfte in geballter Form, an einem Ort, zu ein und derselben Zeit.
Aber wir erleben diese Vielfalt der Gnadengaben, der Dienste und Kräfte auch ‚vor Ort‘, in unseren Gemeinden und Gemeinschaften, in unseren Lebensbezügen und -beziehungen.
Diese Verschiedenheit ist spannend und manchmal auch anstrengend. Das merken wir besonders bei ganz aktuellen und strittigen Themen in unseren Pfarreien und Gemeinden und in unserer ganzen Kirche.
Manchen scheint es zu anstrengend zu sein und sie sehnen sich nach einfachen, eindeutigen und klaren Aussagen, die leider manchmal auch einseitig sind. Sie vermögen es nicht, der tatsächlichen Vielfalt an Menschen, Charakteren und Überzeugungen gerecht zu werden.
Damit besteht die Gefahr, dass Viele, die dazu gehören, sich ausgegrenzt fühlen; manche davon ziehen sich dann ins Private zurück, tauchen in der Gemeinde nicht mehr auf. Schlimmstenfalls verlassen sie ganz die kirchliche Gemeinschaft.
Dass das geschieht, ist jedoch ein großes Versagen in unserer Kirche.
Sowohl in den Evangelien aber auch in der heutigen Lesungen finden wir viele biblische Beispiele und Zeugnisse, die immer wieder betonen, dass die Gemeinschaft der Glaubenden eine vielfältige Gemeinschaft ist.
Ich persönliche Empfinde diese Vielfalt grundsätzlich als Reichtum. Doch dafür muss mindestens eine Bedingung erfüllt sein.
Dieser Reichtum muss gewollt, angenommen und geschätzt werden.
Geschätzt wird er in dem Maße, in dem diese Vielfalt, dieser Reichtum zum Zuge kommen kann.
Dazu ein ganz triviales Beispiel:
In den Seelsorgebereichen, in denen ich mit Kolleg:innen zusammenarbeite gab und gibt es immer wieder folgende Übereinkunft: Wenn sich jemand mit einem seelsorglichen Anliegen an mich wendet und diese Person oder ich in der Begegnung feststelle, dass ‚die Chemie zwischen uns nicht stimmt‘ und deshalb nicht segensreich für die Begegnung und Beziehung sein kann, konnte und kann ich auch heute immer noch das Angebot machen, die anderen Kolleg:innen ins Spiel zu holen.
Wenn dann diese neue Konstellation hilf- und segensreich ist, kann man sehr leicht erkennen, wie wertvoll diese Vielfalt ist.
Diese Vielfalt gilt auch in vielen anderen Bereichen des kirchlichen Lebens.
Nicht nur mir, sondern auch Ihnen, fallen sicherlich bei einiger Überlegung viele Beispiele ein.
Ich möchte Sie und auch mich selber an diesem Sonntag ermuntern, den Blick auf die Vielfalt in unserer Kirche aber auch in unserer Gesellschaft, in unserem Staat zu richten.
Ich möchte ermutigen, diese Vielfalt auch in einer multikulturellen Vielfalt zu entdecken, wo die anderen Kultur, die andere Geisteshaltung und Weltanschauung für mich zu einer Chance wird, sich mit der eigenen Kultur und Geisteshaltung neu zu beschäftigen und vielleicht auch wertvolle Aspekte der anderen zu entdecken, die den eigenen Horizont weitet und mein Leben bereichert.
Wenn in allem „der eine Geist“ wirkt, dann ist mir nicht bange, dass unsere Vielfalt auch unser Reichtum ist, den wir genießen können und dürfen.
Alle Bilder: www.pixabay.com
Die große Sorge vieler Sozialwissenschaftler:innen zu Weihnachten ist, dass das Weihnachtsfest mit viel zu vielen und zum Teil unerfüllbaren Erwartungen verknüpft wird.
Dies führt nicht selten dann zumindest zu Enttäuschungen, manchmal sogar zu Frust und Krach und Streit in den Familien.
Am Ende bleibt ein schales Gefühl von einem Fest zurück, dass eigentlich ein ‚Fest der Familie‘ und ein ‚Fest der Liebe‘ gewesen sein sollte.
Das Problem ist nicht, dass dieses Fest mit Erwartungen verknüpft wurde.
Das Problem ist, dass dieses Fest mitunter mit zu vielen und/oder unerfüllbaren Erwartungen verbunden wird.
Was glauben Sie, was eine Lösung dafür wäre? —
In wenigen Tagen begehen wir den Übergang von diesem Jahr in das Jahr 2022.
Auch am Silvesterabend wird es gegen Mitternacht wieder viele gute Wünsche geben.
Und mit vielen Erwartungen wird man in das neue Jahr gehen.
Unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte aus 2021 werden in 2022 übertragen. Damit verbindet sich die Hoffnung oder Sehnsucht, dass doch wenigstens in diesem neuen Jahr diese Wünsche wahr werden sollten.
Auch haben manche von uns ganz konkrete Vorstellungen vom neuen Jahr. Da werden Lebensziele in den Blick genommen; ob im persönlichen oder im beruflichen Bereich.
Erwartet wird, dass bestimmte Lebensphasen beendet und abgeschlossen und andere neu beginnen werden.
Man wünscht und hofft und sehnt sich nach etwas Bestimmtem für sich oder auch für andere.
Dieser Augenblick, wenn wir uns gegenseitig viel Gutes für das neue Jahr wünschen, ist für mich ein ganz besonderer Augenblick am Jahreswechsel.
Das ‚Neue‘ scheint so unverbraucht, so frei und offen zu sein: alles könnte möglich werden.
Und ja: alles kann möglich werden – aber nicht nur das Gute, sondern auch das, was wir uns vielleicht nicht wünschen und vorstellen.
Ich glaube, wir sind weise, wenn wir das bei all den guten Wünsche zum Jahreswechsel im Hinterkopf behalten.
Wünschen können wir uns Vieles, sogar alles. Aber ob es sich erfüllt, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Und was wird dann am Ende des nächsten Jahres stehen: Enttäuschung, Frust, Resignation?!
Wir können uns vieles wünschen, was aber vielleicht nicht in Erfüllung gehen kann.
Aber wir können auch vieles dafür tun, dass wir am Ende eines Jahres nicht enttäuscht oder gar resigniert sind.
Schon seit Jahren habe ich mich darum bemüht, diese Nacht von Silvester auf den 1. Januar zu relativieren und dies durch einen kleinen Trick, der gleichsam mein Bewusstsein umprogrammieren soll.
Ich stelle mir vor, dass die Nacht vom 31.12. auf den 1.1. eine Nacht wie jede andere ist.
Und wenn mit dem vermeintlich neuen Jahr ein ganz neues Kapitel im Buch meines Lebens aufgeschlagen werden soll mit vielen neuen und unbeschriebenen Seiten, dann ist jede Seite in diesem Kapitel ein einzelner Tag. So wird in jeder Nacht eine neue Seite in diesem Buch meines Lebens aufgeschlagen.
Und was für das Jahr als Ganzes gilt, gilt dann auch für jeden einzelnen Tag: er eröffnet mir was ganz Neues mit allen unzähligen Gelegenheiten, Chancen und Möglichkeiten – theoretisch.
Und diese Sichtweise verändert auch meinen Blick auf jeden einzelnen neuen Tag.
Und ja: natürlich birgt jeder Tag damit auch das Potential aller Enttäuschungen meines Lebens.
Nur: morgen kann es schon wieder anders aussehen.
Diese Perspektive, dass jeder Tag (s)eine neue Chance hat, ermutigt mich dazu, auch jeden Tag als Einzigartigkeit zu sehen, wo Vieles möglich werden kann, aber wo auch Vieles ungenutzt geblieben sein kann.
Nun kann man vielleicht fragen, wie ich das mit meinem christlichen Glauben überein bekomme?
Die Antwort ist ganz einfach: es ist die Botschaft der Umkehr und des Neuanfangs; letzthin die Botschaft der Auferstehung – Tag für Tag.
Im Wissen und im Glauben, dass mein Leben nicht unkorrigierbar ist, darf und kann ich jeden Tag als neue Chance begreifen;
eine Chance, die mich nicht kettet an meine Vergangenheit, sondern zu der ich durch Jesus Christus und meine Auferstehung befreit worden bin.
Ich finde, dieser Aspekt christlichen Glaubens wird in unserem Leben und in unserem Alltag viel zu wenig berücksichtigt.
Denn niemand von uns und auch unsere Zeit ist nicht unveränderlich und deterministisch festgelegt.
An jedem Tag und in jedem Augenblick wartet für uns die Gelegenheit, neu zu beginnen und anders zu leben, egal was uns das Leben zumutet.
Und wir können jeden Tag und jeden Augenblick auch neu unser Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen formulieren und an die gegenwärtigen Umstände anpassen.
So kann das, was gestern noch konkret an Erwartungen formuliert wurde, heute modifiziert werden und uns morgen davor schützen, dass wir übermorgen frustriert und resigniert auf das Vergangene zurück schauen.
Ich wünsche Ihnen und mir ein gutes, glückliches und gesegnetes neues Jahr 2022 mit vielen Sehnsüchten, Chancen, Möglichkeiten und erfüllten Erwartungen.