Wer krank ist, wünscht sich fast immer, die Krankheit zu überwinden und nach der Behandlung nichts mehr von der Krankheit zu spüren. Das Ziel einer solchen Behandlung ist Genesung und Gesundheit.
In einer Krankheit hat das bisherige Leben eine Wendung bekommen. Manchmal nur kurzzeitig, wenn wir, wie zum Beispiel bei einem grippalen Infekt, einige Tage das Bett hüten müssen.
Schwere oder hartnäckige Erkrankungen führen nicht selten zu einem massiven Bruch mit unserem bisherigen Alltag.
Dazu kommt womöglich die Erfahrung, auf Hilfe anderer angewiesen zu sein, auch wenn ich vorher sehr selbständig und selbstbestimmt mein Leben geführt habe. Das allein ist mitunter schon eine riesige Herausforderung – ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich schreibe! Als ich vor 10 Jahren einen massiven Beinbruch hatte, konnte ich noch nicht einmal allein zur Toilette gehen. Das war so krass!
In Gesprächen mit Patient:innen, die körperlich oder seelisch schwer erkrankt sind, bekomme ich von ihnen oft zu hören: „Ich möchte wieder mein altes Leben zurück!“
In der Krankheit erfahren sie ihr Leben als begrenzt oder eingeschränkt; die Sehnsucht ist: das volle Leben.
Aus den Heilungserzählungen, die mir von Jesus berichtet werden, erfahre ich, wie die Menschen, die durch Jesus geheilt wurden, wieder am Leben teilnehmen können.
Ausgrenzungen gegenüber anderen Menschen und aus Gemeinschaften werden überwunden. Geheilte Menschen spüren auf einmal: Sie sind am Leben!
Nun lehrt uns das Leben zugleich, dass manche Krankheit nicht wieder verschwindet, sie ist chronisch, wird unser ganzes Leben begleiten, womöglich auch zu unserem Tod führen!
So kann die Frage aufkommen: Haben wir dann keine Chance mehr auf Heilung?
Doch! Denn Heilung kann mehr bedeuten, als wieder ohne Krankheit leben zu können.
Häufig erlebe ich Patient:innen, die nach einer Phase innerer Auseinandersetzung mit Höhen und Tiefen lernen, mit ihrer Krankheit zu leben.
Oft ist es dann nicht „das alte Leben“ aber ein anderes, verändertes Leben, dem sie weiterhin viel Gutes und Frohes abgewinnen können.
So gesehen kann Heilung bedeuten, dass wir trotz einer Erkrankung zurück ins Leben finden, weil wir in der Krankheit eine neue Lebendigkeit spüren, die uns zeigt: Wir leben!
„Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt…“ (Johannes 9, 5), so spricht der Herr heute zu uns.
ER war in der Welt und der Blinde konnte durch ihn wieder sehen. Das Licht konnte hineinleuchten, in seinen Körper, in seine Seele.
Erhellend war es für den Blinden. Er sah auf einmal klar. Er erkannte die Welt um sich herum, die kleine, die kleingeistige Welt: Er erkannte die Engstirnigkeit und durchschaute die Angst der Menschen (hier der Pharisäer), tiefer zu fragen. Für sie war es scheinbar leichter, blind dem Buchstaben von Gesetzen und Regeln zu folgen, anstatt dem Sinn auf die Schliche zu kommen.
Deshalb hatten sie auch schon Probleme mit diesem Jesus von Nazareth. Für sie muss er manchmal wie ein Kind gewesen sein, dass in seinem Wissensdurst nicht aufhört zu fragen: „Warum?“ und nicht Ruhe gibt, aber nicht, weil er selber Antworten suchte. Denn er, der fragte, wusste die Antwort: ER war selber die Antwort.
„Ich bin das Licht der Welt!“
Er erhellt, was im Dunkeln munkelt. Er führt die Menschen nicht hinters Licht, sondern ins Licht, damit auch sie erfüllt werden vom Licht und erkennen, so wie der Blinde.
Für den Geheilten nicht ohne Konsequenzen! Er war jetzt im Fahrwasser Jesu. Der Argwohn gegen Jesus wurde zum Verdachtsmoment gegen ihn, den jetzt Sehenden und Erkennenden.
Sie forderten von ihm Bekenntnis und er bekannte sich zu dem, der ihm zur Erkenntnis verhalf: Jesus Christus.
Seine Erkenntnis führt zu Klarheit.
Jener, der blindlings zu ihrer Gemeinschaft gehörte, wurde – nun sehend und erkennend – zur unerwünschten Person. Und sie warfen ihn aus der Gemeinschaft der Synagoge hinaus!
Denn er kann und will denen nicht dienen, die ihn für ihre Ideologie oder ihre intriganten Spielchen gegen Jesus missbrauchen wollen. Das scheint er durch seine Heilung auch erkannt zu haben.
So, wie er auch erkannt haben wird, dass viel Zeitgenossen die blinden und hilfsbedürftigen Menschen in der Gesellschaft brauchen, gebrauchen und sogar missbrauchen, um sich mit der eigenen Wohltätigkeit gut darstellen zu können.
Doch durch die erhellende Tat Jesu, kann dieser geheilte Blinde dafür nun nicht mehr herhalten.
Wie oft im Leben: Menschen, die durch-schauen, sind nicht immer beliebt.
Entlastet von Blindheit, kann Erkenntnis belastend werden, wenn wir sehen und verstehen, hinterfragen und auch beklagen.
Dem Sehenden war es das wert. Er erkannte den neuen und tieferen Wert seines eigenen Lebens und das ließ ihn frei werden, und mutig und stark.
Es lohnt sich, das Schicksal des Blinden zu meditieren. Denn: zu sehen und zu verstehen, zu erkennen und zu benennen, macht das Leben nicht leichter, auch für uns nicht. Aber wahrhaftiger!
Ich habe meine eigene, persönliche Geschichte mit dem heutigen Evangelium. Es ist das Evangelium, das wir uns zu unserer Diakonenweihe 1993 ausgesucht haben. Später, an meiner ersten Kaplanstelle habe ich vertretungsweise Religionsunterricht in der 3. und 4. Klasse gegeben. Da stand dann im dritten Schuljahr auch dieses Evangelium auf dem# Lehrplan und wir arbeiteten damals mit den wirklich sehr prägnanten Bildern aus der Neukirchener Kinderbibel von Kees de Kort.
Irgendwie hat mich dieses Evangelium immer wieder berührt und begleitet. Und erst sehr viel später wurde mir klar, was mich daran so begeistert.
Es ist diese kurze Geschichte einer Begegnung zwischen Jesus und einem Mann, die das Leben dieses Mannes von Grund auf veränderte. Urplötzlich werden die Ereignisse geschildert, aber sie haben trotz ihrer Radikalität nichts Beunruhigendes. Diese Begegnung verändert zumindest das Leben des Bartimäus von einer Sekunde auf die andere, doch: Die Radikalität der Ereignisse führt nicht zu einer Krise, sondern zu einer großen heilsamen Wendung im Leben des Mannes.
Ich denke, wir können für uns viel aus diesem Heilungswunder mitnehmen, und zwar, wenn wir uns an die Stelle des blinden Mannes setzen, aber auch, wenn wir an die Stelle Jesu treten.
Es lohnt sich, einige Teile gleichsam wie unter einem Spotlicht zu betrachten.
Wir erfahren von Jesus, dass er mit seinen Jüngern in Jericho war und nun die Stadt verlassen. Wir können davon ausgehen, dass sie auf dem Weg nach Jerusalem waren, denn in Kapitel 11 erfahren wir, dass sie in Jerusalem angekommen sind. Die Strecke Jericho – Jerusalem sind über 40 km und führt durch sehr trockene, fast wüstenhafte Gegend; südlich von Jericho beginnt das Tote Meer.
Wer also Jericho zu Fuß verließ, musste wissen wohin er geht und sich für die Strecke gut vorbereiten. Will man die Strecke an einem Tag schaffen, muss man schon recht zügig und ohne große Pausen laufen. Auf dieser Strecke kommt es am Weg zur Begegnung mit dem blinden Bartimäus.
Bartimäus erfährt nur vom Hörensagen, dass da Jesus bei ihm vorbei kommt. Doch was er von Jesus sonst noch gehört hat, lässt in ihm unmittelbar die Hoffnung aufsteigen, hier jetzt die Chance seines Lebens nutzen zu können. „Jetzt oder nie“, wird er sich vielleicht gedacht haben. Und mit ganzer Kraft ruft er Jesus.
Die Begleiter Jesus wissen, dass man zügig auf dem Weg bleiben sollte, damit das Ziel Jerusalem gut zu erreichen ist. Wollen sie deshalb den Bartimäus abschütteln?
Doch Jesus lässt sich ansprechen, lässt sich unterbrechen und ruft Bartimäus her.
Das erinnert mich manchmal an Situationen im eigenen Leben: da ist was geplant, vorbereitet und auf einmal kommt etwas Unerwartetes, so unerwartet, dass man es vielleicht als Störung empfinden. Unsere Pläne würden über den Haufen geworfen, wenn wir uns dem Unerwarteten zuwenden würden. Wie sind wir dann eher drauf? Die Störung vermeiden, das Unerwartete buchstäblich links liegen lassen?
Jesus hat die Freiheit, sich ‚stören‘ zu lassen und so kommt es zu dieser folgenreichen Begegnung.
Vielleicht kennen wir auch so etwas: wir haben geplant, doch etwas Unerwartetes, vielleicht auch eine nicht angekündigte Begegnung, bringt uns von unserem Plan ab. Wir lassen uns ein und erkennen, dass diese Begegnung sehr gut und wichtig war.
Manchmal erlebe ich im Krankenhaus solche Begegnungen, wenn ich unterwegs durchs Haus bin. Da spricht mich eine Mitarbeiterin oder ein Patient an, oder buchstäblich beiläufig kommt es zu einer Begegnung, zu einem kurzen Gespräch, von dem ich den Eindruck habe, es war gut, auch für meinen Gesprächspartner. Wir nennen das in Seelsorge-Kreisen auch manchmal „Seelsorge zwischen Tür und Angel“.
Bei Jesus hören wir oft von solchen ‚beiläufigen‘ Begegnungen „zwischen Tür und Angel“, die nicht lang, aber oft nachhaltig und folgenreich sind.
Als die Umherstehenden der Intervention Jesu nachgeben, rufen sie dem Bartimäus zu: „Hab Mut! Steh auf! Er ruft dich.“
Das ist schon das erste Wunder in dieser Erzählung. Jene, die auf Planerfüllung drängten werden von Jesus ermutigt, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen.
Ich nehme ihnen ihr „Hab Mut!“ ab. Ich nehme ihnen ab, dass Jesu Verhalten auch sie schon verändert hat und sie offener gemacht hat für diesen Augenblick.
„Hab Mut“ – ich glaube, das ist auch ein wichtiges Wort in dieser Erzählung. Da gibt es Situationen, die wollen wir beherzt angehen und starten auch den ersten Schritt. Dann kann es geschehen, dass wir auf einmal Angst vor der eigenen Courage bekommen. Wie gut, wenn dann da Umstehende sind und sagen: „Mensch, jetzt geh aber auch den Weg weiter für den du dich entschieden hast“. „Jetzt nicht den Schwanz einziehen und den Rückzug antreten!“ Ich danke für solche Menschen, die mir dann sagen: „Hab Mut!“
Und dann kommt es noch zu einer ganz wichtigen Passage in dieser Begegnung. Jesus fragt den Bartimäus: „Was willst du, das ich dir tue?“ Hätte Jesus sich das nicht denken können? Die Menschen haben doch von den Heilungswundern Jesu gehört. Da ist es doch naheliegend, dass der BLINDE Bartimäus wieder sehen will, oder?
Ja, es ist naheliegend. Und vielleicht ahnte und wusste Jesus schon, was Bartimäus von ihm wollte. So hätte er sich diese Frage eigentlich auch sparen können.
Aber nein! Es geht nicht nur darum, dass Jesus erfährt, was Bartimäus will, sondern es geht vielmehr um Bartimäus selber. Denn durch die Frage: „Was willst du, das ich dir tue!“ sichert Jesus diesem Mann seine Souveränität und Autonomie zu.
Wie oft wird Bartimäus erfahren haben, dass andere sich um ihn gekümmert und gesorgt haben. Sie haben es vielleicht oft gut mit ihm gemeint und für ihn gehandelt, in dem Bewusstsein, zu wissen, was ihm guttut oder was er braucht.
Doch dahinter steckt auch eine Gefahr, nämlich die Gefahr der Bevormundung oder gar Entmündigung.
Jesus macht es nicht so. Er sagt Bartimäus nicht, was er braucht, sondern er fragt Bartimäus, was er bräuchte.
Was für einen gewaltigen Unterschied es machen kann, anstelle etwas zu sagen, etwas zu fragen!
Auch hier erfahren wir wieder einmal mehr, wie es Jesus um den Menschen geht: er stellt den Menschen in die Mitte seiner Sorge, er stellt Menschen auf die eigenen Beine, er lässt die Menschen für sich selber spüren und klären, was sie brauchen. Das alles hat etwas mit Ansehen, Respekt und Würde zu tun.
Und so kann das Wunder geschehen: Menschen werden heil, weil sie erkennen und benennen können, was unheil in ihrem Leben ist.
Menschen stehen für sich ein, weil sie für sich aufzustehen lernen und darin auch noch ermutigt werden.
Was für ein Evangelium und was für eine Botschaft für uns, auch für uns als Kirche!
Nicht Ansagen und Vorschriften oder Regeln sind das Wichtigste, was wir den Menschen unserer Zeit mitgeben können, sondern echte personale Begegnung, die den Menschen in den Blick nimmt, die seine Würde bewahrt, ihnen Achtung und Respekt entgegen bringt und sie sich selber klar werden lässt, was sie brauchen und was ihnen zum Heil und zur Heilung dient.
Das Wirken Jesu bleibt anderen Menschen seiner Zeit nicht verborgen. Sie werden aufmerksam auf ihn und seiner Verkündigung.
Vielleicht ziehen ja auch die wundersamen Erzählungen von Heilungen und Totenerweckungen die Menschen an. Das allein wäre doch schon verständlich genug. Warum sollte jemand, der in Not ist, nicht jede Chance nutzen, nicht nach jedem Strohhalm greifen, den er/sie kriegen kann?
Die Frau, deren Tochter „von einem Dämon besessen“, also krank ist, will sich lautstark Gehör verschaffen. Das stört seine Jünger und sie erwarten von ihrem Herrn ein Machtwort. Doch die erste Reaktion Jesu kann verwundern: Er sieht sich nicht ‚zuständig‘ dafür, sich um die hartnäckige Frau zu kümmern, sondern entgegnet dem Ansinnen der Jünger mit den Worten:„…Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt….“.
Das ist schon sehr schroff, manche würden es als herablassend empfinden.
Aber dabei bleibt es nicht, die Frau lässt nicht locker, geht auf ihn zu und fällt vor ihn nieder, wie man vor einem Potentaten, einen Herrscher, einen Machthaber niederfällt, um dessen Gunst zu werben. Die Frau ist in gewisser Weise penetrant und sie sagt unverhohlen, was sie möchte: „Herr, hilf mir!“
Doch anstatt sich von ihrer Hartnäckigkeit erweichen zu lassen, setzt Jesus scheinbar eine weitere Schroffheit nach und brüskiert die Frau mit den Worten: „…Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen. …“
Wie viele von uns hätten nach solchen zwei Abweisungen aufgegeben, sich gleichsam geschlagen gegeben und sich ihrem Schicksal gebeugt, alle Pläne, ja den persönlichen Kampf aufgegeben und die Hände in den Schoß gelegt?
Doch diese Frau gibt nicht auf, sie wird von einer inneren Kraft getrieben, die auch diese Abweisung mutig und mit einem gewissen Selbstbewusstsein wegsteckt. Sie behält dadurch ihre Freiheit, sich für ihre Sache einzusetzen. Vielleicht auch im Hinblick auf die eigene Tochter erduldet sie diese vermeintliche Schmach.
Aber nein, dass ist es nicht, wie sich später herausstellt. Sie antwortet ziemlich gewitzt auf Jesus. Ja, sie ist gerade zu geist-reich und kontert Jesus unumwunden.
Irgendwie scheint das die Aufmerksamkeit Jesu zu wecken und er ‚gibt sich dann doch mit ihr ab‘. Ging es ihm mit seiner schroffen Art vielleicht darum, herauszukitzeln, was der Frau wirklich wichtig ist und was sie im Innersten antreibt zu solcher Hartnäckigkeit?
Wir dürfen es annehmen, denn Jesus antwortet ja gerade nicht der Frau: „Okay, ich gebe auf angesichts deiner Hartnäckigkeit!“ sondern er antwortet:
„Frau, dein GLAUBE IST GROSS. Es soll dir geschehen, wie du willst!“
Jesus verändert eine Haltung, die bislang ein zentrales Merkmal der jüdischen Religion war: Der Gott JHWH (gesprochen „Jach-weh“) ist ein Gott der Juden. Die Juden sind SEIN auserwähltes Volk.
Jesus weitet diese Sichtweise, indem er mit dieser Heilungsgeschichte sagen will: nicht die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, nicht die Exklusivität bestimmt den Heilswillen Gottes.
Das ist ein radikaler Paradigmenwechsel, den Jesus da vollzieht. Und dies führt zu noch mehr Konflikten zwischen ihm und den damaligen Juden.
Jesus sagt mit diesem Beispiel: Gott möchte das Heil nicht für eine bestimmte Gruppe von Menschen, sondern Gott möchte das Heil ALLER MENSCHEN!
Und wie immer und wie Sie es auch von mir gewohnt sind, stellt sich wieder die Frage: Was hat das mit mir und mit meinem Leben zu tun?
Um zu verstehen, was der Dreh- und Angelpunkt dieser Heilungsgeschichte ist, ist es wichtig, nicht nur den ersten Blick, sondern auch einen zweiten und vielleicht sogar noch einen dritten Blick zu wagen.
Denn: auf dem ersten Blick könnte man meinen, dass das Thema die „Hartnäckigkeit“ der Frau ist. Dann würde man geneigt sein zu sagen: wir müssen mit unseren Erwartungen an Gott nur hartnäckig genug sein, dann werden wir Gott schon dazu kriegen, dass er uns gibt, was wir brauchen.
Ergo: wenn wir nur hartnäckig genug sind, dann bekommen wir Gott schon rum und auf unsere Seite.
Beim zweiten Blick gibt uns diese Erzählung aber einen anderen Schlüssel an die Hand. Da geht es nämlich um den Glauben der Frau. Hier können wir dann schlussfolgern: es kommt nicht auf unsere Beharrlichkeit an, sondern allein auf unseren Glauben. Wenn wir glauben, dann schenkt Gott uns sein Heil.
Bei diesen beiden Blickweisen fällt eine „wenn-dann“-Logik auf.
Aber führt das weiter?
Ich halte eine solche Sichtweise für problematisch. Diese Problematik wird dann besonders deutlich, wenn wir diese Logik umkehren. Dann hieße es:
weil du nicht beharrlich genug warst, deshalb hat Gott dir nicht geholfen, oder
weil du zu wenig oder gar nicht geglaubt hast, deshalb hat Gott dir nicht geholfen.
Sind wir wirklich davon überzeugt, dass Gott so aufrechnet?!
Ich will einer solchen Sichtweise nicht folgen. Sie wird dann nämlich zynisch, wenn Menschen inständig Gott um Hilfe bitten oder fest an ihn glauben, aber sie das Gefühl haben, dass Gott ihnen nicht hilft.
Wie schnell führt so ein Denken die Menschen zu einer Art Selbstanklage oder Selbstverurteilung?! „Ich habe wohl zu wenig Glauben, deshalb straft Gott mich mit der Krankheit / mit diesem Schicksalsschlag!“
Ein solches Gottesbild habe ich nicht.
Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass auch Jesus ein solches Gottesbild in diesem Evangelium nicht vermitteln will. Nicht die Frau ist die erste Adressatin dieses Heilungswunders ist, sondern die anderen, die Jesus begleiten: seine JüngerInnen, die ihn begleiten und die Juden, die ihn aufsuchen auf dem Weg durch die Gemeinden; ihnen – die meinen – dass es ‚ihr‘ Gott ist, auf den sie allein Anspruch haben; ihnen sagt Jesus mit dieser Heilung:
Der Gott JHWH, den ihr als Gott des Volkes Israels verehrt, ist ein Gott aller Menschen! Und folglich dürft nicht nur ihr das Heil von ihm erwarten und erhoffen, sondern alle Menschen, auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten!
Als überzeugte und ‚praktizierende‘ ChristInnen dürfen wir uns fragen, ob wir uns nicht auch manchmal auf der Seite der JüngerInnen wiederfinden, die Jesus bitten, die Frau fortzuschicken. Sind wir bereit, von dem heutigen Evangelium zu lernen, dass allen Menschen das Heil Gottes verheißen und zugesagt ist, auch jenen, die nicht ‚mit uns‘ glauben?!
Vielleicht gehen Sie mit dieser Frage in die kommende Woche? Welche Konsequenzen hat das für unser Menschenbild und wie kann das unsere Haltung und unser Verhalten ihnen gegenüber verändern?
Gebet:
Gott, du bist der Gott der ALLES geschaffen hat. Du bist der Gott ALLER MENSCHEN, überall und durch alle Zeiten. Niemandem liebst du mehr oder weniger als andere; niemand darf von dir mehr erwarten, weil er zu einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten Religion oder Konfession angehört. Dieses zu erkennen, bedeutet, anders auf die Menschen zu schauen, die nicht unseren Glauben teilen, aber trotzdem unser aller Schwester und Brüder sind, weil wir alle deine geliebten Kinder sind. Hilf uns, aus diesem Bewusstsein immer wieder neue den Menschen zu begegnen und sie als DEINE geliebten Geschöpfe anzusehen. Darum bitten wir dich durch Jesus Christus, unseren Bruder und Erlöser. Amen.
In der heutigen Tageslesung finden sich Worte aus dem Matthäus-Evangelium:
„Als Jesus von dem Berg herabstieg, folgten ihm viele Menschen. Da kam ein Aussätziger, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, wenn du willst, kannst du machen, dass ich rein werde. Jesus streckte die Hand aus, berührte in und sagte: Ich will es – werde rein! Im gleichen Augenblick wurde der Aussätzige rein.“ (zitiert nach Mt 8, 1 – 3)
Wenn Gott nur will, dann kann ich heil werden; wenn Gott nur will, dann kann ich gerettet werden…-
So oder so ähnlich denken viele Menschen über Gott. Es kommt also allein auf Gott an, ob mir geholfen wird?
Der Auszug aus dem heutigen Evangelium nimmt noch eine andere Facette in den Blick, die – so denke ich – viel zu wenig Beachtung erfährt: Es kommt auch auf mich an, ob ich heil und gerettet werden kann.
Nein, das ist keine Arroganz oder kein Größenwahn, denen ich das Wort reden will.
Halten wir uns die Chronologie der heutigen Heilungsgeschichte noch einmal bewusst vor Augen:
Zuerst kommt der Aussätzige und fällt vor Jesus nieder.
Dann kommt Jesus zum Zug.
Der Aussätzige bringt was ganz wesentliches selber mit ein, damit dieses Wunder der Heilung geschehen kann: er glaubt; er vertraut, dass Jesus helfen und heilen kann.
Das ist die Vor-Leistung, die der Aussätzige mit einbringt. Dieser Glaube gibt ihm die Kraft, auf Jesus zuzugehen, ihm sein Schicksal und seine Zukunft anzuvertrauen. Und er bekennt zugleich freimütig: Sein Glaube, sein Wunsch, seine Sehnsucht nach Heilung ist das eine; das andere aber ist auch der göttliche Wille, dass dieses Heil geschehen kann.
Es kommt also nicht allein auf Gott an, ob wir heil und gesund werden können. Auch unser eigener Glaube ist gefragt und ist wesentlich, damit Heilung durch Gott geschehen kann.
Heilen, nicht krank machen …
„Wenn ihr in eine Stadt kommt und man euch aufnimmt, (…) heilt die Kranken, die dort sind, und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist euch nahe.“ (Lk 10,9)
In Zeiten eigener Krankheit lohnt es sich, in sich selbst hinein zu hören, wonach man sich selbst sehnt. In Begleitung von Kranken bekomme ich manchmal – sogar sehr deutlich – Hinweise: „Ich möchte wieder mein altes Leben zurück!“ – „Ich möchte wieder aktiv werden können!“ – „Ich wünsche mir, meine Antriebslosigkeit zu überwinden!“
Ja, Kranke – so man ihnen offen begegnet und zuhört – können sehr klar formulieren, was ‚ihnen fehlt‘! BTW: Kennen Sie das auch noch? Sie gehen zum Arzt und er fragt Sie: „Was fehlt Ihnen!“?
Kranksein bedeutet also oft Mangel. Es bedeutet, dass den Menschen etwas fehlt; dass sie etwas vermissen, was sie vorher hatten. Kranksein wird also als eine Reduktion verstanden; ein Zurückgeführt werden, was von den erkrankten Menschen aber als Mangel wahrgenommen wird. [An dieser Stelle möchte ich mich nicht mit der Frage beschäftigen, ob eine Re-duktion manchmal auch sinnvoll sein kann! – Ich möchte mich heute darauf beschränken, dass die Reduktion, die Kranke in ihrer Krankheit erfahren, oft als etwas wahrgenommen wird, das sie mit einem ‚Mangel‘ beschreiben oder sogar gleichsetzen würden.]
Die Sehnsucht von Kranken ist daher nur all zu verständlich: die Sehnsucht nach der Wiederherstellung eines frühen Zustands!
In der heutigen Tageslesung lese ich das Wort bei Lukas 10,9 aus dem Munde Jesu: „Wenn ihr in eine Stadt kommt und man euch aufnimmt, (…) heilt die Kranken, die dort sind, und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist euch nahe.“ (Lk 10,9)
Jesus sagt uns hier also: – Fragt die Menschen: „Was fehlt dir?“! – Fragt die Menschen, was sie in ihrem Leben vermissen!
Die jesuanische Haltung der Christen ist also jene, die nach dem Menschen schaut, die ihn buchstäblich ‚in den Blick nimmt‘ und ihm so An-Sehen verschafft.
Doch die Haltung, wie Kirche und Christen oft anderen Menschen begegnet, ist nicht selten von Erwartungen geprägt, die an die anderen gestellt werden: sie sollten, sie müssten, ….
Die Haltung Jesu im heutigen Evangelium ist doch eine ganz andere. Seine Haltung ist die heilsame Haltung eines Arztes, der die Menschen fragt: „Was fehlt dir?“
Damit spricht Jesus auch den Menschen eine Kompetenz zu, nämlich die Kompetenz, sich selbst am Besten auf die Spur zu kommen, was sie zu ihrem Heil, zu ihrer Heilung brauchen.
Ich wünsche mir mehr von dieser Haltung Jesu Christi in unseren Kirchen und bei den ChristInnen dieser Zeit: Haben wir den Mut, mit den Augen des Herrn auf die Menschen zu schauen, ihn in den Blick zu nehmen und seine Sehnsüchte nach Heil und Heilung.
Und genau für diese Arbeit sucht er auch heute Menschen, wenn er einige Verse zuvor sagt: „Die Ernte ist groß (…). Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden…“ (vgl Lk 10, 1ff.)
Ich träume von einer Kirche, die den Menschen nicht sagt, was sie zu tun oder zu lassen haben, sondern die sie – wie der Herr selbst – fragt: „Was willst du, das ich dir tue!“ (vgl. Lk 18,41)