Wer seine Ohren verstopft vor dem Schreien des Armen, der wird einst auch rufen und nicht erhört werden. Sprichwörter / Sprüche 21,13
Dieses Wort habe ich am 24.9.2024 in meinem Stundengebet-Buch gelesen. Es stand ganz am Anfang dieses Tages und sollte für mich das Leitwort dieses heutigen Tages werden.
Es ist ein Wort höchster Aktualität, scheint es doch so, als würde unsere Welt kaltherziger und weniger solidarisch. Da ist zuvorderst eine zunehmend extrem fremdenfeindlichen Haltung in unserer Gesellschaft zu erkennen, die auch noch parteilich fokussiert wird.
Erklärungen, eine ‘traditionelle’ Partei zu sein, die auf vermeintlich ‘traditionelle’ Werte zurück greifen will, iust jedoch dann Lug und Trug und es zeigt sich in ihrer ganzen Programmatik eine inhumane und überhaupt nicht unsere christlich-abendländischen Kultur berücksichtigende Haltung.
Diese wird nämlich geprägt u.a. durch das obige Leitwort.
Schon im Alten Testament wurde es als edelmütig angesehen, wenn gläubige Menschen sich auch einer ethisch-solidarischen Haltung gegenüber Menschen verpflichtet wussten, die sich um Notleidende kümmerte. Ihnen nicht die notwendige Hilfe und Unterstützung zu versagen, war wesentliches Zeichen einer alttestamentlichen Ethik, die im Neuen Testament von Jesus Christus noch einmal übersteigert wurde. Für ihn sind nämlich all jene seine ‘Brüder und Schwestern’, die nicht dem Fleisch nach zu ihm gehören, sondern dem Geiste nach. Auch das ergibt sich aus dem heutigen Tagesevangelium, in dem es heißt:
Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln.
Lk, 8,21
Eine christliche-abendländische Ethik ist also eine Ethik, die ihre Aufmerksamkeit auf die anderen richtet, nämlich auf jene, die unserer Solidarität, Hilfe und Zuwendung bedürfen. Alles andere, vor allem die egozentrische Fixiertheit z.B. auf die eigene Nationalität ist wider dem Geist des Evangeliums.
Das gilt dann in folge dessen auch für alles diskriminierende Geschwafel, welche das traditionelle Familien- und Geschlechterbild hochhalten will. Wenn dies nämlich einher geht mit Herabsetzung und Verweigerung der Freiheit und Selbstbestimmungsrechte des Individuums, kann es sich nicht auf Humanismus, auf christliche Ethik und christlich-abendländische Kultur berufen. Dies geht auch dann nicht, wenn sich zeitgeschichtliche Zeugnisse anführen, lassen, die andere Menschen verfolgt und diskriminiert haben im vermeintlichen Rückgriff auf das Christentum. In Wahrheit haben sie schon damals den christlichen Glauben verraten; sie waren in diesem Sinne schon in Wahrheit ‘Antichrist:innen’!
Assistierter Suizid (2)
– ein Thema auch für Christ:innen?!
Assistierter Suizid
Vor wenigen Tagen ging relativ klanglos eine immens wichtige Debatte im Deutschen Bundestag über die Bühne, die uns alle irgendwie und irgendwann einmal betreffen könnte, ob direkt oder indirekt. Es ging um die Frage, wie “Assistierter Suizid” gesetzlich geregelt werden könne. Dabei lagen zwei unterschiedliche Gesetzesentwürfe vor, die diskutiert und über die auch in getrennten Abstimmungen entschieden wurde. Dabei fand jedoch keiner der beiden Gesetzesentwürfe die erforderliche Mehrheit.
Was ist der Hintergrund, der zu einer solchen Gesetzesinitiative geführt hat?
Einleitung:
Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 das 2015 vom Bundestag beschlossene Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ für nichtig erklärt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse „als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“ Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasse auch die Freiheit, auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Der Gesetzgeber könne die Suizidhilfe regulieren. In dieser Debatte kommt der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) eine wichtige Bedeutung zu.
Was ist Beihilfe zur Selbsttötung als Sterbehilfe?
Die Grundrechte der Verfassung schützen auch die Selbstbestimmung des Menschen. Sie umfasst auch das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen. Weil der Suizid also nicht unter Strafe steht, ist an sich nach den allgemeinen Regeln des Strafrechts auch die Beihilfe zur Selbsttötung straflos. Der Sterbewillige selbst nimmt die Handlung vor, die zum Tod führt. Die Beihilfe kann zum Beispiel darin bestehen, die todbringenden Mittel zu besorgen. Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/bundesverfassungsgericht-verbot-der-geschaeftsmaessigen-100.html
Beim Assistierten Suizid geht es nicht darum, dass helfende Personen selber das Mittel verabreichen, sondern es lediglich zur Verfügung stellen, angefangen von der Verschreibung bis hin zur Bereitstellung der Medikamente.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, warnte zu Beginn der Verhandlung im April vor falschen Erwartungen. Es gehe „nicht um die moralische oder politische Beurteilung der Selbsttötung und ihrer Folgen für die Gesellschaft“, sondern „allein um die Reichweite des Freiheitsraums, den das Grundgesetz einer staatlichen Strafdrohung entgegensetzt.“
Die beiden diskutierten Gesetzesentwürfe
Die erste Initiative stammte von 85 Abgeordneten um Lars Castellucci. Ihr Entwurf sah vor, dass die Suizidassistenz weiter grundsätzlich strafbar ist, unter bestimmten Voraussetzungen aber erlaubt wird. Dafür sollte die Person, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, volljährig sein, sich mindestens zwei Mal von einem Facharzt für Psychiatrie untersuchen lassen und ein Beratungsgespräch absolvieren. Der Geist dieses Regelung ist vergleichbar mit der geltenden Regelung zum § 218 StGB, welches den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich unter Strafe stellt, diese Tat aber unter bestimmten Voraussetzungen strafrechtlich nicht verfolgt wird.
Die zweite Gesetzesinitiative griff den Gedanken des Bundesverfassungsgerichtes auf, dass betont hatte, dass es ein Recht auf selbst bestimmtes Sterben gäbe. Wenn es also dieses Grundrecht gäbe – so diese Initiative weiter – wäre es rechtlich widersinnig, dieses Recht im Zusammenhang mit der Strafgesetzgebung zu regeln. Im Gesetzentwurf hieß es: “Jeder darf einem anderen, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben eigenhändig beenden möchte, auf dessen Wunsch Hilfe zur Selbsttötung leisten und ihn bis zum Eintritt des Todes begleiten.”
Beiden Gesetzesentwürfe betonen zugleich, dass das Thema “Suizidvermeidung” auf alle Fälle einen sehr hohen Stellenwert hat. Deshalb hat sich eine große Mehrheit von 688 Abgeordneten für einen Gesetzentwurf zur Suizidprävention ausgesprochen.
[Meinungsbild in der Gottesdienstgemeinschaft:
Haben Sie diese Debatte wahrgenommen? • Haben Sie den Unterschied zwischen beiden Gesetzesentwürfen gekannt? • Wer von Ihnen hat die Debatte verfolgt und ist der Auffassung, diese rechtlichen Unterschiede verstanden zu haben? • Wer von Ihnen hat gesellschaftliche Diskussionen um dieses Thema wahrgenommen oder sogar persönlich daran teilgenommen? • Wem ist dieses Thema in innerkirchlichen Diskussionen in jüngster Zeit begegnet und hat die innerkirchliche Diskussion verfolgt? • Wer meint, dass unsere Kirche genügend über dieses Thema diskutiert, sowohl in den eigenen Reihen wie in unserer Gesellschaft? • Wer meint, dass unsere Kirche und unsere Pfarreien sich viel stärker mit dieser Thematik beschäftigen muss?]
Meine seelsorgliche Sorge bei diesem Thema
Wir alle – ohne Ausnahme – können in die Situation kommen, dass wir uns Gedanken machen, wie wir sterben wollen. In diesem Zusammenhang kann dann die Frage, ob „Assistierter Suizid“ für uns selber eine Option ist, aufkommen.
Warum von mir heute diese Fragen? Weil mich die Sorge umtreibt, dass wir als Kirche heute zu wenig bei den Menschen und den wirklich wichtigen Fragen der Menschen sind!
Denn es ist ja nicht so, dass unter uns Christ:innen einhelliger Konsens darüber besteht, wie wir mit diesem Thema umgehen wollen.
Viele Fragen und Themen werden in diesem Zusammenhang auftauchen: Welche Haltung nehme ich zu diesem Thema ein?
Ich möchte nur einige Themen und Fragebereiche aufgreifen, die für eine sachgerechte Diskussion und für eine persönliche Positionierung wichtig sein könnten:
1.) Wer entscheidet über mein Leben und meinen Tod? • Bin ich der Überzeugung, dass Gott der Herr des Lebens ist? • Wie ist es dann mit der von Gott geschenkten menschlichen Freiheit? • Wann bin ich herausgefordert, über mein Leben zu bestimmen und wieweit darf meine Selbstbestimmung dabei gehen? Hier taucht zwangsläufig eine Spannung auf und zwar zwischen den Überzeugungen, dass Gott Herr über Leben und Tod sei und ich von ihm zugleich in Freiheit gesetzt wurde, tatsächlich selber darüber entscheiden zu können.
2.) Was bedeutet für uns Lebensschutz? – Wo fängt er an und wo hört er auf? Welche Themen tauchen in diesem Zusammenhang auf? Ich möchte nur einige nennen:
• Lebensschutz von Anfang an - Lebensschutz des ungeborenen Lebens
• Lebensschutz im staatlichen und gesellschaftlichen Leben: Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung, Schutz von Minderheiten, Schutz vor nicht-staatlicher Gewalt und Selbstjustiz, Lebensschutz im Strafvollzug ->'Todesstrafe', Schutz in schwersten Lebensbedrohungen wie Krieg, Unfall, Krankheit, Schutz am Lebensende ...
3.) Welche Rolle spielt das Gewissen bei diesem Thema? Das II. Vatikanische Konzil hat betont: das menschliche Gewissen ist die “höchste Entscheidungsinstanz” im menschlichen Leben; Gott sei hingegen die “höchste Urteilsinstanz”. Das bedeutet: der Mensch ist im Letzten seinem Gewissen verpflichtet. Am Ende meiner Tage wird Gott dann über mein Denken und Tun urteilen.
Was bedeutet das also, wenn ich in eine Situation komme, wo ich zu der festen Überzeugung gelangt bin, dass ich mein Leiden nicht mehr erleiden muss und will? – Diese Entscheidungsfreiheit habe ich ja als Mensch, denn diese Freiheit ist mir ebenfalls von Gott gegeben. Wie setze ich diese Freiheit ein? Von welchen Kriterien mache ich meine Gewissensentscheidung abhängig, damit mein Leben vor Gott gerechtfertigt sein wird?
4.) Wie verhalte ich mich, wenn Angehörige, Freunde, Gemeindemitglieder oder Menschen, die mir anvertraut sind, sich entschieden haben, freiwillig und vorzeitig aus dem Leben zu treten? Bin ich bereit, liebend und wertschätzend mit Menschen umzugehen, die dieses Thema umtreibt? Bin ich bereit, ihnen zur Seite zu stehen? Oder lehne ich es von vornherein ab, offen zu sein für die Begegnung mit Menschen, die sich mit dem assistierten Suizid beschäftigen? Treibt mich der Gedanke um, sogar mitverantwortlich oder ‘mitschuldig’ zu werden, wenn ich auch in solchen Lebensphasen ‚bei den Menschen bleibe‘? Kann ich auch in solchen Situationen die von Gott gegebene Entscheidungsfreiheit respektieren und bejahen? Wenn ich Menschen, die aus dem Leben treten wollen, nicht zu Seite stehen möchte: welche Gründe gibt es dafür? Welche eigenen Ängste oder Befürchtungen habe ich? Habe ich das Gefühl mitverantwortlich für eine mögliche Entscheidung zu sein?
5.) Wie halte ich es mit meinem Einsatz für das Leben? Will ich mir die Mühe machen, Menschen, die aus dem Leben treten wollen, Perspektiven für ein Leben zu eröffnen, sie zu unterstützen und zu begleiten? Will ich mir die Mühe machen, herauszufinden, welche andere Möglichkeiten es noch gibt, um das Leben nicht selbstbestimmt zu beenden?
6.) Welche Haltung nehme ich selber und für mein eigenes Leben zu diesem Thema ein?
Kann ich mich mit diesem Thema konfrontieren lassen und für mich selber darüber nachdenken, ob das Thema “assistierter Suizid” auch für mich persönlich zu ein Thema werden könnte, ohne schon jetzt dazu eine abschließende Haltung einzunehmen? Wage ich es, mich auch emotional diesem Thema zu stellen, selbst wenn ich weiß, dass dieses Thema mich ‚kalt‘ erwischen kann, weil man beim Nachdenken über das eigene Sterben meist nicht ‚cool‘ bleiben kann? Bin ich bereit, mich umfassend zu informieren, mich mit Menschen über dieses Thema auszutauschen und mein Wissen und meinen geistigen Horizont bei diesem Thema aktiv zu erweitern?
All diese Fragen und noch viel mehr Fragen und Gedanken stehen im Raum, wenn wir uns als Christ:innen und Menschen mit diesem Thema beschäftigen. Welche Unterstützung bekomme ich, bekommen wir bei diesem Thema durch die Kirche? Wie geht sie mit dieser Problematik um? Welche Seelsorgende und Gemeindemitglieder sind da, um sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Gerade in Zeiten, wo wir einen massiven Mitgliederschwund in der Kirche erfahren; gerade in Zeiten, wo wir in einer immensen Glaubwürdigkeitskrise als Kirche stecken; gerade, wo man von Christ:innen und den Kirchen keinen adäquaten Umgang mit solchen elementaren und ethischen Fragen zutraut, wird es darum gehen, wie wir solche Themen in Kirche und Gesellschaft nach vorne bringen und uns damit beschäftigen.
Ich träume von einer Kirche, die diese Themen umfassend aufgreift, weil sie erkennt, dass es bei diesen Themen in erster Linie um die Menschen geht, die von diesen Themen betroffen sind.
Einladung nach dem Impuls:
Wir stehen heute mit meinem Impuls zu diesem Thema am Anfang einer Beschäftigung damit. Nun möchte ich Sie einladen, vielleicht schon jetzt oder auch später, Fragen oder Gedanken zu benennen, die Sie in diesem Zusammenhang erörtern wollen? Ich werde sie gerne notierten und in gesonderten Impulsen aufgreifen. Gerne können Sie mir auch nach diesem Gottesdienst eine Mail dazu schreiben. Alle Anregungen werde ich vertraulich behandeln.
Exkurs:
Ich habe ja versprochen, zu verraten, was das Bild am Anfang mit dem Ginsterstrauch mit unserem heutigen Thema zu tun hat.
… Allein wanderte er [Elija] einen Tag lang weiter bis tief in die Wüste hinein. Zuletzt ließ er sich unter einen Ginsterstrauch fallen und wünschte, tot zu sein. »HERR, ich kann nicht mehr!«, stöhnte er. »Lass mich sterben! Irgendwann wird es mich sowieso treffen, wie meine Vorfahren. Warum nicht jetzt?«…
1.Könige 19,4
Fällt dir was auf?
Das Thema Suizid ist selbst im Alten Testament nicht unbekannt. Es gibt auch in der Bibel offenbar Situationen, die uns schildern, wie Menschen meinen, dass ihr Leben unter den gegenwärtigen Umständen nun ein Ende finden könnte und sollte.
Und wenn wir weiterlesen, dann achte mal auf die Reaktion des Engels! … Er hält keinen moralischen Vortrag darüber, ob und inwieweit es ethisch okay ist, sich selber das Leben zu nehmen. Der Engel macht Elija nur darauf aufmerksam, dass es noch eine Aufgabe für ihn zu erledigen gibt.
Dass der Engel auf das Thema “Sterbewunsch” und sich aktiv zum Sterben niederzulegen nicht aufgreift, heißt nicht, dass er es gutheißt. Aber diese Bibelstelle kann uns vor Augen führen, dass das Thema “Sterbewunsch” und seinem eigenen Leben das Ende zu setzen in der Bibel nicht unbekannt ist.
Ich habe meine eigene, persönliche Geschichte mit dem heutigen Evangelium. Es ist das Evangelium, das wir uns zu unserer Diakonenweihe 1993 ausgesucht haben. Später, an meiner ersten Kaplanstelle habe ich vertretungsweise Religionsunterricht in der 3. und 4. Klasse gegeben. Da stand dann im dritten Schuljahr auch dieses Evangelium auf dem# Lehrplan und wir arbeiteten damals mit den wirklich sehr prägnanten Bildern aus der Neukirchener Kinderbibel von Kees de Kort.
Irgendwie hat mich dieses Evangelium immer wieder berührt und begleitet. Und erst sehr viel später wurde mir klar, was mich daran so begeistert.
Es ist diese kurze Geschichte einer Begegnung zwischen Jesus und einem Mann, die das Leben dieses Mannes von Grund auf veränderte. Urplötzlich werden die Ereignisse geschildert, aber sie haben trotz ihrer Radikalität nichts Beunruhigendes. Diese Begegnung verändert zumindest das Leben des Bartimäus von einer Sekunde auf die andere, doch: Die Radikalität der Ereignisse führt nicht zu einer Krise, sondern zu einer großen heilsamen Wendung im Leben des Mannes.
Ich denke, wir können für uns viel aus diesem Heilungswunder mitnehmen, und zwar, wenn wir uns an die Stelle des blinden Mannes setzen, aber auch, wenn wir an die Stelle Jesu treten.
Es lohnt sich, einige Teile gleichsam wie unter einem Spotlicht zu betrachten.
Wir erfahren von Jesus, dass er mit seinen Jüngern in Jericho war und nun die Stadt verlassen. Wir können davon ausgehen, dass sie auf dem Weg nach Jerusalem waren, denn in Kapitel 11 erfahren wir, dass sie in Jerusalem angekommen sind. Die Strecke Jericho – Jerusalem sind über 40 km und führt durch sehr trockene, fast wüstenhafte Gegend; südlich von Jericho beginnt das Tote Meer.
Wer also Jericho zu Fuß verließ, musste wissen wohin er geht und sich für die Strecke gut vorbereiten. Will man die Strecke an einem Tag schaffen, muss man schon recht zügig und ohne große Pausen laufen. Auf dieser Strecke kommt es am Weg zur Begegnung mit dem blinden Bartimäus.
Bartimäus erfährt nur vom Hörensagen, dass da Jesus bei ihm vorbei kommt. Doch was er von Jesus sonst noch gehört hat, lässt in ihm unmittelbar die Hoffnung aufsteigen, hier jetzt die Chance seines Lebens nutzen zu können. „Jetzt oder nie“, wird er sich vielleicht gedacht haben. Und mit ganzer Kraft ruft er Jesus.
Die Begleiter Jesus wissen, dass man zügig auf dem Weg bleiben sollte, damit das Ziel Jerusalem gut zu erreichen ist. Wollen sie deshalb den Bartimäus abschütteln?
Doch Jesus lässt sich ansprechen, lässt sich unterbrechen und ruft Bartimäus her.
Das erinnert mich manchmal an Situationen im eigenen Leben: da ist was geplant, vorbereitet und auf einmal kommt etwas Unerwartetes, so unerwartet, dass man es vielleicht als Störung empfinden. Unsere Pläne würden über den Haufen geworfen, wenn wir uns dem Unerwarteten zuwenden würden. Wie sind wir dann eher drauf? Die Störung vermeiden, das Unerwartete buchstäblich links liegen lassen?
Jesus hat die Freiheit, sich ‚stören‘ zu lassen und so kommt es zu dieser folgenreichen Begegnung.
Vielleicht kennen wir auch so etwas: wir haben geplant, doch etwas Unerwartetes, vielleicht auch eine nicht angekündigte Begegnung, bringt uns von unserem Plan ab. Wir lassen uns ein und erkennen, dass diese Begegnung sehr gut und wichtig war.
Manchmal erlebe ich im Krankenhaus solche Begegnungen, wenn ich unterwegs durchs Haus bin. Da spricht mich eine Mitarbeiterin oder ein Patient an, oder buchstäblich beiläufig kommt es zu einer Begegnung, zu einem kurzen Gespräch, von dem ich den Eindruck habe, es war gut, auch für meinen Gesprächspartner. Wir nennen das in Seelsorge-Kreisen auch manchmal „Seelsorge zwischen Tür und Angel“.
Bei Jesus hören wir oft von solchen ‚beiläufigen‘ Begegnungen „zwischen Tür und Angel“, die nicht lang, aber oft nachhaltig und folgenreich sind.
Als die Umherstehenden der Intervention Jesu nachgeben, rufen sie dem Bartimäus zu: „Hab Mut! Steh auf! Er ruft dich.“
Das ist schon das erste Wunder in dieser Erzählung. Jene, die auf Planerfüllung drängten werden von Jesus ermutigt, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen.
Ich nehme ihnen ihr „Hab Mut!“ ab. Ich nehme ihnen ab, dass Jesu Verhalten auch sie schon verändert hat und sie offener gemacht hat für diesen Augenblick.
„Hab Mut“ – ich glaube, das ist auch ein wichtiges Wort in dieser Erzählung. Da gibt es Situationen, die wollen wir beherzt angehen und starten auch den ersten Schritt. Dann kann es geschehen, dass wir auf einmal Angst vor der eigenen Courage bekommen. Wie gut, wenn dann da Umstehende sind und sagen: „Mensch, jetzt geh aber auch den Weg weiter für den du dich entschieden hast“. „Jetzt nicht den Schwanz einziehen und den Rückzug antreten!“ Ich danke für solche Menschen, die mir dann sagen: „Hab Mut!“
Und dann kommt es noch zu einer ganz wichtigen Passage in dieser Begegnung. Jesus fragt den Bartimäus: „Was willst du, das ich dir tue?“ Hätte Jesus sich das nicht denken können? Die Menschen haben doch von den Heilungswundern Jesu gehört. Da ist es doch naheliegend, dass der BLINDE Bartimäus wieder sehen will, oder?
Ja, es ist naheliegend. Und vielleicht ahnte und wusste Jesus schon, was Bartimäus von ihm wollte. So hätte er sich diese Frage eigentlich auch sparen können.
Aber nein! Es geht nicht nur darum, dass Jesus erfährt, was Bartimäus will, sondern es geht vielmehr um Bartimäus selber. Denn durch die Frage: „Was willst du, das ich dir tue!“ sichert Jesus diesem Mann seine Souveränität und Autonomie zu.
Wie oft wird Bartimäus erfahren haben, dass andere sich um ihn gekümmert und gesorgt haben. Sie haben es vielleicht oft gut mit ihm gemeint und für ihn gehandelt, in dem Bewusstsein, zu wissen, was ihm guttut oder was er braucht.
Doch dahinter steckt auch eine Gefahr, nämlich die Gefahr der Bevormundung oder gar Entmündigung.
Jesus macht es nicht so. Er sagt Bartimäus nicht, was er braucht, sondern er fragt Bartimäus, was er bräuchte.
Was für einen gewaltigen Unterschied es machen kann, anstelle etwas zu sagen, etwas zu fragen!
Auch hier erfahren wir wieder einmal mehr, wie es Jesus um den Menschen geht: er stellt den Menschen in die Mitte seiner Sorge, er stellt Menschen auf die eigenen Beine, er lässt die Menschen für sich selber spüren und klären, was sie brauchen. Das alles hat etwas mit Ansehen, Respekt und Würde zu tun.
Und so kann das Wunder geschehen: Menschen werden heil, weil sie erkennen und benennen können, was unheil in ihrem Leben ist.
Menschen stehen für sich ein, weil sie für sich aufzustehen lernen und darin auch noch ermutigt werden.
Was für ein Evangelium und was für eine Botschaft für uns, auch für uns als Kirche!
Nicht Ansagen und Vorschriften oder Regeln sind das Wichtigste, was wir den Menschen unserer Zeit mitgeben können, sondern echte personale Begegnung, die den Menschen in den Blick nimmt, die seine Würde bewahrt, ihnen Achtung und Respekt entgegen bringt und sie sich selber klar werden lässt, was sie brauchen und was ihnen zum Heil und zur Heilung dient.
Vor etwas über eineinhalb Jahren haben sich die Seelsorgerinnen und Seelsorger unserer Pfarrei St. Clemens in Oberhausen darauf verständigt, stärker als bisher sogenannte Zielgruppen-Seelsorge in den Blick zu nehmen.
Eine Zielgruppe ist jene, die trauern und die einen lieben Menschen verloren haben.
Deshalb haben wir einen „Arbeitskreis Trauerpastoral“ gegründet. Ja, ich weiß: bei dem Stichwort „Arbeitskreis“ wird manchen von Ihnen wieder das geflügelte Wort in den Sinn kommen: „Und wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis!“
Aber dem ist nicht so. Ich wage das zu behaupten, nicht nur weil ich selber diesem Kreis angehöre. Wir sind insgesamt zur Zeit sechs Mitglieder. Vier davon sind hauptamtliche SeelsorgerInnen in unserer Pfarrei und aus verschiedenen Bereichen der Seelsorge. Dazu gehören dem Kreis noch zwei Frauen an, die ehrenamtlich tätig sind. Alle Mitglieder haben eine hohe fachliche Qualifizierung in verschiedenen Bereichen wenn es um Sterbende, Tod und Trauer geht. (Und das ist ein Pfund, mit dem wir in unseren Kirchen wuchern können: fachlich hochqualifizierte Personen engagieren sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich!)
Einmal im Monat – an jedem ersten Donnerstag – laden wir zu einem Erinnerungsgottesdienst ein, der keine heilige Messe ist. Eingeladen sind alle Menschen, die spüren, dass sie in Trauer sind. Dabei ist es völlig egal, wie frisch der Verlust ist oder wie lange die Trauerphase schon anhält. Wir wollen einen Raum schaffen, wo diese Trauer sein darf, weil die Trauer wesentlich zur menschlichen Existenz dazugehört und sie eine wirkmächtige Phase im Leben eines Menschen sein kann.
Wenn mir die Frage gestellt würde, warum ich in diesem Kreis mitarbeite, dann würde ich unterschiedliche Aspekte benennen können. Einer ist sicherlich auf die heutige Lesung zurück zu führen:
„Schwestern und Brüder, wir wollen euch über die Entschlafenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung mehr haben. (…) Tröstet also einander …“ (1. Thess 4, 13 ff.)
Ich möchte Menschen in Trauer unterstützen, die Trauer als eine wichtige Phase in ihrem Leben wahr- und anzunehmen. Ich möchte sie einladen, die Trauer als ein Weg der Heilung zu erfahren, der ihrem Leben einen Reichtum gibt, der leider nicht ohne Schmerz und Wunden vonstatten geht.
Liebe Schwestern und Brüder, diejenigen von Ihnen, die mich bereits länger kennen, wissen, dass ich in meinen Predigten auch gerne Zeugnis ablege von meinem ganz persönlichen Glauben. So auch bei diesem Thema: Ich bin der festen Überzeugung, dass meine Trauer im christlichen Glauben eine Trauer ist, zu der die Hoffnung wesentlich dazu gehört.
Sie alle, die selbst solche Trauer erlebt haben, können nachvollziehen, wie der Tod eines geliebten Menschen gleichsam den Boden unter den Füßen wegziehen kann. Die Welt um einen herum scheint still zu stehen und vieles scheint so banal, so unwichtig. Schmerz, Zweifel und Unsicherheiten sind die eine Seite der Trauer. Doch ich habe immer wieder – mal stärker, mal schwächer – auch die andere Seite der Trauer erfahren dürfen: die Seite der Hoffnung, der Zuversicht und des Glaubens.
Paulus erlebt schon zu seiner Zeit, wie die Trauer einen Menschen zutiefst erschüttern kann. Auch die frühen Christen war nicht frei von Zweifeln und Anfechtung, wenn sie vom Tod anderer oder auch mit ihrem eigenen Tod konfrontiert wurden.
Hier ein Angebot der Hoffnung zu machen, war damals schon dem heiligen Paulus wichtig, denn in solchen Zeiten ist es nötig, durch Hoffnung zu trösten. Viele jedoch, die trösten wollen, fragen sich: wie?
Können das nur Fachleute, die als TrauerbegleiterInnen ausgebildet sind?
Nein, liebe Schwestern und Brüder, jede und jeder von uns kann in Trauer Trost und Hoffnung geben. Jeder Mensch, der selbst durch die Trauer und Hoffnunglosigkeit gegangen ist und diese nicht verdrängt hat, bringt eine ganz wesentliche Voraussetzung mit, um selber Trost und Hoffnung zu geben.
Was das ist?
Die Fähigkeit, der Trauer und der Hoffnungslosigkeit nicht auszuweichen, sondern sie auszuhalten.
Dazu eine kleine Erfahrungsgeschichte:
Während einer Abwesenheit konnte ich nicht ins Krankenhaus gerufen werden. Das Kind einer jungen Mutter war gestorben. Ein junger Priesterkollege – der nicht aus der Krankenhaus-Seelsorge kam – war bereit, sich nachts auf den Weg ins Krankenhaus zu machen, um diese junge Mutter zu begleiten. Einige Tage später rief ich meinen Kollegen an und fragte ihn, wie er mit dieser Situation klar gekommen sei, denn schließlich wurde er damit quasi ins kalte Wasser gestoßen. Da sagte er mir, auch etwas enttäuscht: „Mich hatte das Schicksal dieser jungen Mutter sehr berührt, ich konnte nicht viel machen. Ich hatte keine Worte. Ich konnte nur da sein und da bleiben!“
Liebe Schwestern und Brüder, ich habe große Hochachtung vor meinem Kollegen. Und ja, er hat alles richtig gemacht. Zwar glaubte er „nicht viel machen zu können“, dabei hat er alles gegeben, was er geben konnte: seine Anwesenheit, seine Nähe. Er hat nicht die Flucht vor diesem Leid der jungen Mutter ergriffen, sondern hatte den Mut, da zu bleiben, vermeintlich ohnmächtig.
Und ich bin mir sicher, dass er dieser Frau unendlich viel in diesem Augenblick gegeben hat: er war bereit mir ihr in dieser Zeit in ihre Not hinabzusteigen, sie nicht allein zu lassen. Und in seiner Sprachlosigkeit hat er der Sprachlosigkeit der Mutter einen Raum geben und somit auch eine Berechtigung.
Anderen Menschen Trost geben zu können, ist also nicht allein eine Frage der fachlichen Qualifikation, sondern des Mutes, sich selber dieser ( dunklen ) Seite im Leben zu stellen und nicht zu fliehen.
Gebet:
Die Hoffnung ist die Schwester des Glaubens. Von ihr sagt der heilige Paulus im Römer-Brief: (Römer 8, 24ff)
„… Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Denn wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern….“
So lasset uns beten:
Heiliger Geist, du unser Beistand, du Atem Gottes, der alles lebendig macht.
Du zerreißt die finstre Nacht der Trauer, du spendest Trost in Leid und Tod.
Wirke du und bete du in uns, wo die Quellen unserer Worte angesichts der Trauer versiegt sind. Halte du in uns den Lebensodem aufrecht, damit wir in der Trauer die Hoffnung spüren, die unsere Wunden, die uns der Tod geschlagen hat, heilen lässt.
Darum bitten wir dich durch Jesus Christus, unseren Bruder und Herren, der auch für uns von den Toten auferstanden ist und mit dir und dem Vater liebt und lebt in Ewigkeit. Amen.