Trotz-dem

„Lass es uns noch mal versuchen!“ – dieser Satz begleitet mich seit etlichen Jahren!



(2 Kor. 4, 6-10)


Dieses Wort des heiligen Paulus ist Lesungstext des 9. Sonntags im Jahreskreis, den wir heute begehen.

Worte, die mich hellhörig machen lassen und die mich an vergangene Situationen erinnern, als ich noch in der Gefängnisseelsorge tätig war.
Meine damalige Kollegin und Freundin Sr. Bonifatia Keller OP benutzte immer wieder einen Satz, der schon fast zu einem geflügelten Wort wurde.
Immer, wenn sich frustrierende Situationen wiederholten, die nötige Prozesse in der Gestaltung unseres Dienstes zum Stocken brachten oder wo wir scheinbar ‚gegen eine Wand liefen‘, sprach sie diese Worte: „Lass es uns noch mal versuchen!“

Bonifatia war ein Mensch, die nicht so leicht aufgab.
Sie war kein Dickkopf im klassischen Sinne; aber sie ließ es sich nicht nehmen, immer wieder neue Versuche zu starten, wenn sie von einer Sache überzeugt war.
Oft habe ich mich gefragt, woher sie die Kraft dazu bekam, stets neu aufzustehen, auch wenn andere schon längst „die Flinte ins Korn geschmissen hätten“.

Bonifatia war – nicht nur in dieser Hinsicht – eine starke Frau und nach über zehn Jahren nach ihrem Tod profitiere ich von ihrer Haltung und ihrem Geist.

„Lass es uns noch mal versuchen!“ – diese Hoffnung und Zuversicht, dennoch etwas bewegen zu können, kommt mir gerade in letzter Zeit immer gehäuft in den Sinn.

Die Krise der Kirche und die Krise des christlichen Glaubens

Missbrauchsskandale und mangelhafte Missbrauchsaufarbeitung in unserer Kirche, der Massen-Exodus aus unserer Kirche, ausgebremste notwendige Erneuerungen in unserer Kirche, das Schwinden christlicher Werte in unserer Gesellschaft, die Diskriminierung von Frauen und Queer-People in unserer Kirche, Anfeindungen von Kirche und Christ:innen, … –

all das führt bei vielen Menschen in der Kirche zu Resignation, Mut- und Hoffnungslosigkeit.

Katholik:innen verlassen in Scharen unsere Kirche (in der evangelischen Kirche sieht es nicht besser aus).
Menschen, die zum ‚inner circle‘ unserer Kirche und unserer Pfarreien gehören, geben ihre selbstgewählten Aufgaben auf und verlassen mitunter die Kirche.
Selbst hauptamtliche Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen in der Seelsorge, sei es Kleriker oder Nicht-Kleriker quittieren ihren Dienst!

Es liegt mir fern, diese Menschen zu schelten, denn zu oft kann ich ihre genannten Gründe nachvollziehen; zu oft kann ich innerlich bejahen, dass bei Manchen „die Luft raus ist“ und sie „einfach nicht mehr können“!

Ich sehe andererseits, dass nicht alle Katholik:innen die Kirche verlassen und nicht alle haupt- oder ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen ihren Dienst aufgeben!
Warum?

Es wäre zu oberflächlich, ihnen zu wenig Empathie für diese Themen zu unterstellen oder zu meinen, es wäre ihnen einfach nur alles in der Kirche egal!
Mitnichten!
Es gibt Viele in der Kirche, die „leiden wie Hund“ an der gegenwärtigen Situation der Kirche und des christlichen Glaubens.

Warum geben diese Menschen nicht auf?!

Warum resignieren sie nicht?1

Vielleicht, weil sie etwas von dem spüren, was der heilige Paulus in der heutigen Lesung erwähnt?

Trotz Bedrängnis finden sie noch die Luft zum atmen, können tief Luft holen, sich auf ihre Mitte, auch des Glaubens zurückziehen und konzentrieren und finden in sich eine Tiefe und Weite vor, die sie innere Kräfte sammeln lässt.
Sie sind zwar einerseits ratlos und haben keine schnellen Rezepte oder Antworten, wie man aus der Krise herausfinden könnte, haben dennoch die Kraft und den Mut, weiter zu machen; sie besitzen eine Kreativität, die ihnen immer wieder neue Ideen schenkt und ihnen zeigt, was man noch alles ausprobieren könnte.

Bei der Fülle von Fragen und Herausforderungen fühlen sie sich manchmal überfordert und gehetzt von den Ereignissen, aber finden gleichzeitig eine innere Ruhe und Gelassenheit, weil sie sich nicht allein und verlassen fühlen (vor allem nicht von Gottes Heiliger Geistkraft!).
Auch sie tragen die „Todesleiden Jesu an ihrem Leib“, wie Paulus es formuliert.
Und die Folgen der Leiden sieht man ihnen manchmal sogar an, denn sie gehen auch an ihnen nicht spurlos vorüber.

Und trotz-dem gibt es bei Ihnen diese Energie, nicht aufzugeben und sich das Leben und den Glauben nicht vermiesen zu lassen.
Dennoch haben sie die Lust und die Freude am Leben und am Glauben nicht verloren, sondern leben aus einer tiefen und zugleich sichtbaren Hoffnung, dass es da noch was gibt, was sie trägt und was sie sich selber nicht zu verdanken haben; diese ungezügelte Sehnsucht, die Nelly Sachs mal mit den Worten beschrieb:

Anfanghaft spüre ich auch etwas von dieser Kraft in mir. Ich habe weiterhin Lust zu einem Neuaufbruch und -anfang in unserer Kirche.
Ich spüre die Überzeugung in mir, dass der Weg weitergehen wird und dass wir in einer historisch sehr bedeutsamenPhase unserer Kirche leben, die ähnlich wie die Zeit um das Vatikanum II ist:
eine ‚Kirche im Werden‘ ist nötiger denn je!

רוּחַ = „Heilige Geistkraft“

Glücklich die Menschen, die diese Kraft und Energie in sich spüren!
Sie dürfen daran glauben, dass diese Kraft nicht aus ihnen selber kommt, sondern dass sie ihnen eingegossen wird durch die ‚ruach‘ (hebräisch), die Heilige Geistkraft Gottes, die wir am vergangenen Pfingstfest wieder so lebendig gefeiert und verehrt haben.

Mit der heutigen Lesung ermutigt mich der heilige Paulus, sich dieser inneren Kraft und Stärke neu zu vergewissern, aber ohne Arroganz, Hochmut oder Überlegenheitsgefühle, sondern verbunden mit einer tiefen Dankbarkeit und Liebe zu diesem geschenkten Segen Gottes.

Es ist in dieser Zeit eine wirkliche Gnadenerfahrung, wenn man nicht die „Brocken hinschmeißen will“, sondern immer noch die Kraft hat, der inneren Stimme zu lauschen, die in uns spricht:


Alle Bilder: www.pixabay.com




Neues Jahr – neues Glück ?!

Die große Sorge vieler Sozialwissenschaftler:innen zu Weihnachten ist, dass das Weihnachtsfest mit viel zu vielen und zum Teil unerfüllbaren Erwartungen verknüpft wird.
Dies führt nicht selten dann zumindest zu Enttäuschungen, manchmal sogar zu Frust und Krach und Streit in den Familien.
Am Ende bleibt ein schales Gefühl von einem Fest zurück, dass eigentlich ein ‚Fest der Familie‘ und ein ‚Fest der Liebe‘ gewesen sein sollte.

Quelle: Bild von klimkin auf Pixabay

Von unerfüllten Erwartungen

Das Problem ist nicht, dass dieses Fest mit Erwartungen verknüpft wurde.
Das Problem ist, dass dieses Fest mitunter mit zu vielen und/oder unerfüllbaren Erwartungen verbunden wird.

Was glauben Sie, was eine Lösung dafür wäre? —

In wenigen Tagen begehen wir den Übergang von diesem Jahr in das Jahr 2022.
Auch am Silvesterabend wird es gegen Mitternacht wieder viele gute Wünsche geben.
Und mit vielen Erwartungen wird man in das neue Jahr gehen.
Unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte aus 2021 werden in 2022 übertragen. Damit verbindet sich die Hoffnung oder Sehnsucht, dass doch wenigstens in diesem neuen Jahr diese Wünsche wahr werden sollten.

Auch haben manche von uns ganz konkrete Vorstellungen vom neuen Jahr. Da werden Lebensziele in den Blick genommen; ob im persönlichen oder im beruflichen Bereich.
Erwartet wird, dass bestimmte Lebensphasen beendet und abgeschlossen und andere neu beginnen werden.

Man wünscht und hofft und sehnt sich nach etwas Bestimmtem für sich oder auch für andere.

Dieser Augenblick, wenn wir uns gegenseitig viel Gutes für das neue Jahr wünschen, ist für mich ein ganz besonderer Augenblick am Jahreswechsel.

Das ‚Neue‘ scheint so unverbraucht, so frei und offen zu sein: alles könnte möglich werden.

Und ja: alles kann möglich werden – aber nicht nur das Gute, sondern auch das, was wir uns vielleicht nicht wünschen und vorstellen.

Ich glaube, wir sind weise, wenn wir das bei all den guten Wünsche zum Jahreswechsel im Hinterkopf behalten.
Wünschen können wir uns Vieles, sogar alles. Aber ob es sich erfüllt, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Und was wird dann am Ende des nächsten Jahres stehen: Enttäuschung, Frust, Resignation?!

Wir können uns vieles wünschen, was aber vielleicht nicht in Erfüllung gehen kann.

Aber wir können auch vieles dafür tun, dass wir am Ende eines Jahres nicht enttäuscht oder gar resigniert sind.

Quelle: Bild von h kama auf Pixabay

Stets neu und offen

Schon seit Jahren habe ich mich darum bemüht, diese Nacht von Silvester auf den 1. Januar zu relativieren und dies durch einen kleinen Trick, der gleichsam mein Bewusstsein umprogrammieren soll.

Ich stelle mir vor, dass die Nacht vom 31.12. auf den 1.1. eine Nacht wie jede andere ist.
Und wenn mit dem vermeintlich neuen Jahr ein ganz neues Kapitel im Buch meines Lebens aufgeschlagen werden soll mit vielen neuen und unbeschriebenen Seiten, dann ist jede Seite in diesem Kapitel ein einzelner Tag. So wird in jeder Nacht eine neue Seite in diesem Buch meines Lebens aufgeschlagen.

Und was für das Jahr als Ganzes gilt, gilt dann auch für jeden einzelnen Tag: er eröffnet mir was ganz Neues mit allen unzähligen Gelegenheiten, Chancen und Möglichkeiten – theoretisch.

Und diese Sichtweise verändert auch meinen Blick auf jeden einzelnen neuen Tag.

Jeder einzelne, neue Tag birgt in sich das Potential aller Chancen und Möglichkeiten meines Lebens.

( Gerd Wittka, 26.12.2021 )

Und ja: natürlich birgt jeder Tag damit auch das Potential aller Enttäuschungen meines Lebens.
Nur: morgen kann es schon wieder anders aussehen.

Diese Perspektive, dass jeder Tag (s)eine neue Chance hat, ermutigt mich dazu, auch jeden Tag als Einzigartigkeit zu sehen, wo Vieles möglich werden kann, aber wo auch Vieles ungenutzt geblieben sein kann.

Christliche Sicht

Nun kann man vielleicht fragen, wie ich das mit meinem christlichen Glauben überein bekomme?
Die Antwort ist ganz einfach: es ist die Botschaft der Umkehr und des Neuanfangs; letzthin die Botschaft der Auferstehung – Tag für Tag.

Im Wissen und im Glauben, dass mein Leben nicht unkorrigierbar ist, darf und kann ich jeden Tag als neue Chance begreifen;
eine Chance, die mich nicht kettet an meine Vergangenheit, sondern zu der ich durch Jesus Christus und meine Auferstehung befreit worden bin.

Ich finde, dieser Aspekt christlichen Glaubens wird in unserem Leben und in unserem Alltag viel zu wenig berücksichtigt.
Denn niemand von uns und auch unsere Zeit ist nicht unveränderlich und deterministisch festgelegt.
An jedem Tag und in jedem Augenblick wartet für uns die Gelegenheit, neu zu beginnen und anders zu leben, egal was uns das Leben zumutet.
Und wir können jeden Tag und jeden Augenblick auch neu unser Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen formulieren und an die gegenwärtigen Umstände anpassen.

So kann das, was gestern noch konkret an Erwartungen formuliert wurde, heute modifiziert werden und uns morgen davor schützen, dass wir übermorgen frustriert und resigniert auf das Vergangene zurück schauen.

Quelle: Bild von Tumisu auf Pixabay

Ich wünsche Ihnen und mir ein gutes, glückliches und gesegnetes neues Jahr 2022 mit vielen Sehnsüchten, Chancen, Möglichkeiten und erfüllten Erwartungen.