Braucht es noch Erntehelfer:innen im Acker Gottes?

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Bild von Franz W. auf Pixabay

Am 14. Sonntag (2./3.7.2022) hören wir im Evangelium von der Aufforderung Jesu, für Erntehelfer:innen im Acker Gottes zu beten. Doch ist dieses Gebet überhaupt noch nötig in der gegenwärtigen Zeit der Kirche und angesichts massiver Kirchenaustritte?
Dazu meine Predigt an diesem Sonntag, die ich hier etwas mehr mit konkreten Beispielen ‚unterfüttert‘ habe.


„Zeitenwende“ – so nennt Olaf Scholz das, was in mir Erinnerungen der 1970er und 80er Jahre hervorruft: Strategie der Abschreckung, NATO-Doppelbeschluss, Kalter Krieg, Angst vor einem Atomkrieg…

Viele von uns, die wir hier heute sitzen, dürften diese Begriffe bekannt sein.

Diejenigen, denen diese Begriffe nichts mehr sagen, fehlen zumeist auch heute hier in der Kirche, denn auch in unserer Kirche leben wir seit einigen Jahren in einer Zeitenwende. Jüngere Menschen erreichen wir an unseren ‚Pastoralen Standorten‘, wie wir es heute nennen, nur noch sehr schwer.

Erst vor wenigen Tagen kam die Meldung, dass weniger als 50% der Bevölkerung in Deutschland einer der beiden großen Kirchen (römisch-katholisch oder evangelisch) angehören.

Innerhalb unserer eigenen Kirche in Deutschland gibt es eine große Unruhe und viel Bewegung. Wir erleben in unserer Kirche eine historische Phase, die zuletzt wohl nur mit der Zeit der Reformation verglichen werden kann.

Mit einem Unterschied: damals gehörten fast alle Menschen in Deutschland zu einer christlichen Kirche, wenn sie nicht zum Judentum gehörten.

Bild von BPBricklayer auf Pixabay

Wenn wir die aktuellen Kirchenaustrittszahlen sehen, stellen Viele als erstes die Frage, wie das gestoppt werden kann?!

Eine fatale Frage, weil sie versucht, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Viel wichtiger scheint mir, erst einmal zu schauen, warum die Menschen aus der Kirche austreten!

Denn, die schwindende Akzeptanz der Kirche(n) ist Folge einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Kirchen.

Es wäre ein Irrtum, daraus auf eine zunehmende Bedeutungslosigkeit des Glaubens oder des Religiösen zu schließen.

Im Gegenteil: heute suchen die Menschen mehr denn je nach religiösen Angeboten. Die Esoterik hat seit vielen Jahren großen Zulauf.

Ich denke oft, die Menschen sind nicht weniger religiös, sondern weniger kirchlich geworden.

Woran kann das liegen?

Eine vollständige Analyse lässt sich hier nicht liefern.

Aber ich möchte einen Aspekt mal heraus greifen, der symptomatisch für die Situation in unserer Kirche ist.

Wir setzen oft amtskirchliche Lehraussagen mit Glauben gleich. Doch das ist ein Irrtum!

Kritiker, die die heutige Reformbewegungen (z.B. Synodaler Weg) in unserer Kirche ablehnen, sind sehr schnell mit Äußerungen bei der Hand, dass man sich von den Glaubenswahrheiten entferne, die in unserer Kirche gelten.

Dabei geht es den Menschen heute gar nicht um diese Glaubenswahrheiten, sondern es geht ihnen um ihren Glauben, um ihre eigene und persönliche Religiösität.

Ob sie zur Geltung kommen kann, entscheidet oft darüber, ob Menschen in der Kirche bleiben oder nicht. Oder anders ausgedrückt: ob die Menschen in unserer Kirche eine religiöse Heimat finden, ist das oft das Entscheidende, nicht, ob sie den Aussagen des Lehramtes zustimmen.

Vor einigen Tagen habe ich begonnen, ein kleines Büchlein zu lesen. Es trägt den Titel: „Wie werde ich ein Christ?“ – Es gibt auszugsweise Texte des christlichen Philosophen Sören Kierkegaard (aus Dänemark) wider.

Sören Kierkegaard um 1840.
Bild: gemeinfrei

„Was mir eigentlich fehlt, ist, dass ich mit mir selbst ins reine darüber komme, was ich tun soll, nicht darüber, was ich erkennen soll. (…) Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, das ich tun solle; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will. Und was nützte es mir dazu, wenn ich eine sogenannte objektive Wahrheit ausfindig machte; wenn ich mich durch die Systeme der Philosophen hindurcharbeitete (…)
was nützte es mir, dass ich die Bedeutung des Christentums entwickeln und viele einzelne Erscheinungen erklären könnte, wenn es für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung hätte?…“

„Wie werde ich ein Christ – Sören Kierkegaard – Texte vom Glauben, Präsenzverlag 2013, S. 29f. *1

Sören Kierkegaard unterscheidet hier ganz deutlich zwischen religiösen Wahrheiten und einem persönlichen Glauben, der für das ganz persönliche und individuelle Leben bedeutsam ist.

Und genau an dieser Stelle bricht Kirchlichkeit und persönliche Religiosität heutzutage auseinander.

Und in ihrer persönlichen Religiosität sind die Menschen auch heute immer noch Suchende.

Diese Suche nach Gott ist übrigens schon für Benedikt von Nursia das entscheidende Kriterium dafür, zu entscheiden, ob Anwärter in ein Kloster aufgenommen werden können. Die Suche nach Gott geht nämlich einer Sehnsucht nach Gott voraus, die sich konkretisiert in religiösen Fragen und auch praktischem religiösen Tun.

Im Psalm 14 finden wir das Wort: „Der Herr blickt vom Himmel herab auf die Menschen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht.“

Suchen wir also in unserer Kirche, in unseren Gemeinschaften, an unseren ‚Standorten kirchlichen Lebens‘ noch die Menschen, die Gott suchen?
Gehen wir dabei über die Kreise der Menschen hinaus, die sowieso immer noch zu uns kommen?

Hier deutet sich schon an: konkrete Nachfolge ist auch das Suchen und Aufsuchen der Menschen, die auf der Gottsuche sind.

Natürlich können wir dabei bei uns selber anfangen, aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben, dürfen keine Nabelschau betreiben.

Die eigene Gottsuche, aber auch die der anderen – teils unbekannten Menschen – ist die Suche nach der Bedeutung und Alltagstauglichkeit meines Glaubens, unseres Glaubens.

Wenn die Kirche und ihr Dienst für die Menschen nicht mehr für deren konkretes Leben bedeutsam sind, dann werden die Kirchen überflüssig und bedeutungslos.

Der französische Bischof Jaques Gaillot hat einmal den Satz getan: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts!“

Eine Kirche also, die die Lebensrealitäten der Menschen nicht wahrnimmt oder sie sogar nach ihrer eigenen Doktrin umzumodeln versucht, ist fehl am Platze.


Und da sind wir bei vielen konkreten Beispielen in unserer Gesellschaft.


Wenn es z.B.

  • um die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit geht,
  • wenn es darum geht, wie Menschen heute gut und sinnvoll leben könnten,
  • wenn Angst und Sorgen der Menschen auch Auswirkungen hat auf gegenseitige und gesellschaftliche Solidarität,
  • wenn Menschen versuchen, ihrer Geschlechtlichkeit auf die Spur zu kommen und merken, dass es nicht nur Mann und Frau gibt, sondern eine große biologische Vielfalt, die für betroffene Menschen zu einer echten Herausforderung wird, sich selber zu finden.*2
  • Wenn es darum geht, das Thema „sexualisierte Gewalt“ konkret vor Ort auch zu behandeln, also in unseren Gemeinschaften offen und ohne Tabus darüber zu sprechen und in der Breite die Verhinderung solcher Verbrechen zum Thema zu machen.
  • Wenn es darum geht, dass Menschen sich die Frage stellen, ob und wie lange sie sich dem unheilbaren Leiden am Leben und an einer Krankheit aussetzen müssen, ohne für sich entscheiden zu dürfen, wann es gut ist.


Allein diese letzte Frage, ist so brandaktuell und ich kann nicht sehen, dass wir uns in unseren kirchlichen Gemeinschaften vor Ort damit beschäftigen.
Dabei geht es überhaupt nicht zuerst um die Frage des „assistierten Suizids“, sondern schon allein um die Frage, ob wir Menschen zur Seite stehen, die durch passive Verhaltensweisen sagen: „Nun ist es genug!“ – Gemeint ist das sogenannte „Sterbefasten“. – Haben Sie schon mal etwas davon gehört?! – Nein?

Kurzer Exkurs zu „Sterbefasten“

Beim Sterbefasten geht es um ein Verhalten von alten und/oder kranken Menschen, die sich ähnlich – wie Eliah (s.u.!) – sagen: „Nun ist es genug!“ und durch bewussten Verzicht auf Nahrung und Trinken ihren Sterbeprozess unterstützen wollen. Für Zugehörige oft eine krasse Situation, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, weil sie sich nicht die Frage gestellt haben, ob ein solches selbstbestimmtes Sterben auch ethisch und moralisch akzeptabel sein kann. Viel Leid entsteht durch eine solche Verunsicherung auf beiden Seiten.

Ich nenne nur ein Beispiel: eine demenzerkrankte Person verweigert bewusst die Aufnahme von Essen und Trinken. Ist es da wirklich ethisch und moralisch geboten, diese Person gegen ihren eigenen Willen über eine Magensonde mit Nahrung oder über eine Infusion mit Flüssigkeit zu versorgen?

Bild von Peggychoucair auf Pixabay

[1 Kön 19,4-5: Er selbst (Eliah) ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod. Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein.]

Selbst für den gottesfürchtigen Propheten Eliah gab es die Option, sein Leben durch Nahrungs- und Getränkeverweigerung ein Ende zu setzen. Allein der Hinweis Gottes, dass ER noch einen Auftrag für ihn habe, durchkreuzte Eliahs Pläne.

An dieser Stelle möchte ich keine voreilige ethische Bewertung zu diesem Themenkomplex vornehmen, sondern möchte dafür sensibilisieren, dass das konkrete Fragen und Herausforderungen heutiger Menschen mitten unter uns sind. Vielleicht stellen Sie sich sogar selber solche Fragen? Wo sind wir also als Kirche bei den Menschen und in solchen Fragestellungen?!



Und so sehen wir, dass wir in unserem etablierten kirchlichen Leben oft nur Platz haben für ganz bestimmte Vorstellungen und Arten von kirchlichem Leben und Themen und die Frage nach der persönlichen Religiosität quasi keinen adäquaten Platz findet.

Wenn Jesus uns als heute uns also auffordert: „Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter:innen für seine Ernte auszusenden!“ – dann müssen wir wohl gleichzeitig darum beten, dass wir die Augen dafür geöffnet bekommen, wo die Menschen um uns herum (uns selber eingeschlossen) nach Gott in ihrem Leben suchen und in ihrer konkreten Lebenssituation religiöse Fragen haben und Antworten suchen.


*1: Ursprüngliche Quelle:

Das Zitat stammt aus seinen Tagebüchern Band 1, S. 16f (Tagebucheintrag „Gilleleie, den 1. Aug. 1835“)

erschienen in: Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke und Tagebücher, übersetzt und herausgegeben von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Grevenberg Verlag Dr. Ruff & Co. OHG, Band 28: Die Tagebücher, Erster Band, Simmerath 2003.

*2 Mann-Frau-Schema ist nicht eindeutig.

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